Filmfest Hamburg 2012

20. Filmfest Hamburg
27. September – 6. Oktober 2012
Hamburg umarmt Fatih Akin, und Kim Ki-Duk singt

Kim Ki-Duk bei der Preisverleihung; gleich wird er singen.

Kim Ki-Duk bei der Preisverleihung; gleich wird er singen.

Wenn das Wetter mitspielt, kann Hamburg auch Ende September noch sehr charmant sein. Eine angenehm wärmende Sonne und ein sanfter Windhauch laden zu Spaziergängen zwischen den Filmen ein, die ersten fallenden Blätter bereiten dem Besucher einen roten Teppich zurück ins Kino. Neben dem auf großen Festivals inzwischen anscheinend unvermeidlich gewordenen Multiplex als Massen-Abspielstätte und gesichtslosem Rahmen für die Empfänge erwies sich der Allende-Platz im Univiertel als das eigentliche Herz des 20. Filmfests Hamburg: Das angrenzende Abaton, eines der ältesten Programmkinos Deutschlands und immer noch ein großer Name, ist selbstverständlich eingebunden, auf dem (Park-)Platz selbst war das Festival-Zelt aufgebaut und mit einem kuriosen Mannhaus “gesichert”.

Das Programm selbst erwies sich als die übliche bunte Tüte: Weltkino in verschiedenen Programmblöcken (u.a. Lateinamerika,  frankophones Kino und speziell Québec sowie der übliche Verdächtige Asien), mehr oder weniger schlüssig zusammengestellte Themensektionen (Umwelt, Publikumserfolge aus Europa, Tanz), Kinder- und Fernsehfilme. Eine gewisse Übersättigung läßt sich nicht leugnen, zumal sich die Festivals trotz oder gerade wegen dieser etwas beliebig wirkenden Ausfächerung einander immer ähnlicher werden. Insbesondere die Fernsehfilme, seit Jahren auch in Berlin und München fester Bestandteil, rechtfertigen ihre Anwesenheit eher selten durch Qualität – es ist recht offensichtlich, daß damit Eitelkeiten der Branche bedient werden (und viele Gäste bereit stehen, um Diskussionsrunden und Premierenparties zu füllen).

Kaspar Hauser als DJ mit Kopfhörern – gespielt von einer Frau

Der Eingang zum Festival-Gelände mit Mann-Haus

Der Eingang zum Festival-Gelände mit Mann-Haus

Doch wird man ja nirgendwo zur Teilnahme gezwungen, und so ließen sich viele interessante Stoffe und auch einige Perlen im Programm finden. Ein echtes Kuriosum war etwa La leggenda di Kaspar Hauser / Die Legende von Kaspar Hauser des Italieners Davide Manuli, der aus der schon längst von Legendenbildung überlagerten historischen Begebenheit endgültig eine Parabel macht. Ufos fliegen über den Sheriff hinweg, dann tanzt er ein Duell auf Leben und Tod mit dem Drogendealer. Als Kaspar Hauser an den Strand gespült wird, nimmt er sich seiner an und will ihm beibringen, DJ zu werden. Doch auch die Herzogin und der Priester interessieren sich für den Knaben, der von einer Frau gespielt wird.

Es sind deutlich surreale Szenen, die in klarem Schwarz-Weiß gefilmt sind, fast immer ohne Schnitt, oft mit unbewegter Kamera. Auch die ironisch übersteigerte Kostümierung der Figuren, die ja gesellschaftliche Rollen und keine individuellen Personen darstellen, trägt ihren Teil zur starken visuellen Stilisierung bei. Am deutlichsten prägt den Film jedoch der von Vitalic beigesteuerte Elektro-Soundtrack, etliche Szenen muten geradezu wie Videoclips an. Das funktioniert erstaunlich gut, Kaspar zuckt und zappelt zu den wummernden Bässen und trägt immerzu Kopfhörer, die ihn von der Außenwelt trennen. Vincent Gallo ist in einer Doppelrolle als Sheriff und Pusher zu sehen, der eigentliche Glücksgriff ist aber die Performance-Künstlerin Silvia Calderoni als Kaspar Hauser, die der Regisseur erst direkt vor Drehbeginn gecastet hat. Sie begreift die Figur sehr körperlich, nicht Kaspars wenige gesprochenen Sätze sind entscheidend, sondern die vielen subtilen Bewegungen. Man wünscht dem Film Erfolg bei der sicher nicht aussichtsreichen Suche nach einem Verleih.

Weerasethakul ist auf dem Weg beliebig zu wirken, entwickelt dabei aber einen unwiderstehlichen Sog

Obskur wie eh und je gibt sich auch Arthouse-Liebling Apichatpong Weerasethakul, der vor einigen Jahren mit Blissfully Yours und Tropical Malady auf sich aufmerksam machte und für Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben 2010 die Goldene Palme in Cannes erhielt. Der Thailänder Weerasethakul, der sich der Einfachheit halber Joe nennen läßt, erschafft sozusagen das Gegenstück zum rasanten asiatischen Action-Kino, er gilt als Meister der langen und langsamen Einstellungen. Meistens interesiert er sich für Geschichten über Geister, so auch in Mekong Hotel, wo sie Tiere und vielleicht auch Menschen fressen. Seine Geister unterscheiden sich freilich von europäischen Gespenstern oder denen aus japanischen Gruselfilmen, die vor einiger Zeit einen großen Boom erlebten. Bei Weerasethakul können zwei Personen auf einem Bett sitzen und miteinander reden, aber deswegen müssen nicht beide als reale Menschen anwesend sein.

Das Festival-Zelt – wegen einer vorübergehenden Wettereintrübung gerade menschenleer…

Das Festival-Zelt – wegen einer vorübergehenden Wettereintrübung gerade menschenleer…

Auf eine Handlung verzichtet der Regisseur, auch auf eine Chronologie im üblichen Sinn, alles scheint gleichzeitig stattzufinden. Eine Hauptrolle spielt auf jeden Fall der Mekong, er taucht in vielen Einstellungen auf. Das unspektakuläre, fast unmerkliche Dahinströmen des Flusses ist dabei trotzdem von ungeheurer Präsenz. Auf der Tonspur liegt fast ununterbrochen eine Aufnahmesitzung mit einem Musiker, sogar inklusive Dialogbruchstücken mit dem Regisseur. Als wäre das noch nicht verwirrend genug, besteht das Bildmaterial zu großen Teilen aus Testaufnahmen für einen noch nicht realisierten Film: Weerasethakul ist bei aller angenehmen Lockerkeit auf einem nicht ungefährlichen Weg, beliebig zu wirken. Und wenn die Exotik nicht wäre – würde man manche Szenen nicht einfach langweilig finden? Wenn man sich darauf aber einläßt, entwickelt der Film trotzdem einen unwiderstehlichen Sog, man fühlt sich am Ende entspannt wie nach einer Meditations-Stunde. Mekong Hotel ist mit einer Länge von 60 Minuten für Weerasethakul eigentlich ein Capriccio und im Kino kaum unterzubringen. Er wird seinen Weg direkt ins Fernsehen und auf Sammel-DVDs finden.

Ein gutes Händchen bewies das Festival bei der Vergabe des Ehrenpreises

Andere Filme sind dagegen mittlerweile regulär angelaufen, Die Abenteuer des Huck Finn von Hermine Huntgeburth etwa und More than Honey, die Entwicklungshilfe-Doku Süßes Gift oder das etwa andere Nachkriegs-Drama Lore, das auch den Preis der Hamburger Filmkritik erhielt. Ruby Sparks von Jonathan Dayton und Valerie Faris, den Machern von Little Miss Sunshine, erweist sich als doch eher uninspirierte Pygmalion-Variation, die sich als kleines Indie-Kino tarnt. Ebenfalls ausgezeichnet wurde Ha-Mashgihim / God’s Neighbors, der innerhalb und von einer streng religiösen jüdischen Gemeinschaft gedreht wurde und bereits in Cannes einen Nebenpreis gewonnen hatte. Der Drehbuch-Preis für Gnade von Matthias Glasner mutet etwas seltsam an und liegt eventuell an der Vorauswahl. Ein gutes Händchen bewies das Festival dagegen mit der Vergabe des Ehrenpreises an das koreanische enfant terrible Kim Ki-Duk, dessen aktuelles Werk Pieta gerade eben in Venedig den Hauptpreis erhalten hatte.

Kim Ki-Duk auf dem roten Teppich; im Hintergrund Laudator Feridun Zaimoglu

Kim Ki-Duk auf dem roten Teppich; im Hintergrund Laudator Feridun Zaimoglu

Kim, der größte unter den nicht wenigen Schmerzensmännern des asiatischen Kinos, inszenierte sich selbst gnadenlos als landstreicherhafter Außenseiter und sang anstelle einer Dankesrede ein Volkslied. Das muß man sich erst einmal leisten können, es wurde aber ein berührender Moment daraus, der sich wohltuend von den üblichen formelhaften Abläufen bei Preisverleihungen unterschied. In Pieta frönt Kim weiter seiner Besessenheit von Leiden und Glaube: Wenn Mi-Son zum säumigen Schuldner kommt, bricht er Knochen, trennt Finger ab, verstümmelt Gliedmaßen, damit der Kredithai die Versicherung kassieren kann. Er ist ein geradezu animalisches Wesen, sein wertvollster Besitz ist sein Werkzeug, ein Messer. Angreifbar ist er nur – durch Liebe.

Kann die Frau, die so unvermittelt auftaucht und sich durch wirklich nichts abschütteln läßt, wirklich Mi-Sons Mutter sein, wie sie behauptet? Man mag es, ebenso wie der verlorene Sohn, irgendwann nicht mehr ausschließen. In grotesker Umkehrung der Verhältnisse bittet sie ihn um Verzeihung, Mi-Son sieht schließlich sein ganzes Lebenskonzept in Frage gestellt. Kim Ki-Duk produziert keine Splatter-Bilder, aber sehr körperliche, die darum so unangenehm sind. Die Opfer in Pieta sind alle Handwerker, ihre Maschinen eignen sich auch gut zur Zerstörung ihrer Leiber. Pieta ist ein sehr düsterer Film geworden, auch im wörtlichen Sinn, kaum ein Bild ist hell. Viele Detail-Aufnahmen, ähnlich wie im Horror-Film, verstärken das unterschwellige Unbehagen. Kim Ki-Duks Figuren sind immer extrem und unrealistisch, trotzdem bleibt ihr Verhalten nachvollziehbar. Eigentlich sind seine Filme nicht sehr kompliziert. Pieta zwingt den Zuschauer, sich seines Mensch-Seins bewußt zu werden.

Eine Dokumentation über die Atombombe und das Schlangenritual, ohne eine Explosion oder eine Schlange zu zeigen

Man beachte die Wanderschuhe!

Man beachte die Wanderschuhe!

Das Hamburger Filmfest ist ja für eine so große Stadt eigentlich eher klein. Festivalleiter Albert Wiederspiel albert bei seinen Reden herum und kokettiert ein wenig damit, unter dem Radar zu fliegen; das zumindest vermittelt er ganz sympathisch. Einige Dokumentationen hatten um die Ecke Bezüge zur Hansestadt. Snake Dance etwa mäandert um sein Thema, die Entwicklung der Atombombe, herum und betrachtet es aus ungewohnten Blickwinkeln. Zwei Orientierungsmarken gibt es dabei: Aby Warburg und Los Alamos. Der inzwischen einigermaßen vergessene Hamburger Kunsthistoriker Warburg, eigentlich ein Mitbegründer der Ikonographie, wirkt dabei fast wie ein Deuter für das Kino, das ungefähr zur gleichen Zeit entstand. Los Alamos, der spirituelle Ort, ist der Fixpunkt, zu dem der Film immer wieder zurückkehrt. Hier studierte Warburg das Schlangenritual der Hopi-Indianer, das die Versöhnung mit der Erde anstrebt; Jahrzehnte später heilte er sich durch die Arbeit an seinen Aufzeichnungen tatsächlich selbst aus einer Depression, die ihn bereits ins Sanatorium geführt hatte. Auch Robert Oppenheimer kurierte in Los Alamos seine Depressionen aus und wählte den Ort später für die jahrelange, abgeschiedene Arbeit an der Atombombe – wegen des schönen Ausblicks.

Hin und wieder stören handwerkliche Mängel, ansonsten bezieht Snake Dance klar Stellung, ohne zu agitieren. Dies ist eine Dokumentation über die Atombombe und das Schlangenritual, ohne eine Explosion oder eine Schlange zu zeigen. Überhaupt werden keine Archiv-Aufnahmen verwendet, für die Filmemacher Patrick Marnham und Emmanuel Riche schaffen die nur eine falsche Sicherheit: Der Zuschauer hat das Gefühl, das habe ich schon mal gesehen, ich weiß Bescheid.

Nicht ganz auf der Höhe zeigt sich leider Fatih Akin mit seiner Herzensangelegenheit Der Müll im Garten Eden über die Mülldeponie, die einem türkischen Dorf mit der üblichen Arroganz der Macht vor die Nase gesetzt wird. Ja, man hat so einen Film schon oft gesehen, und eigentlich interessant sind nur Details an Inhalt und Form. Manches erinnert an Stuttgart 21, nur daß hier die Menschen existenziell bedroht sind. Echte Bauern und Bäuerinnen treten auf, wie man sie hierzulande gar nicht mehr kennt – dann sieht man wieder, daß Anatolien moderner und uns viel näher ist, als oft befürchtet wird. Und die Dorfbewohner artikulieren ihre Verzweiflung mit erstaunlichem Sinn für Ironie.

Auf dem Festival spielt es aber keine große Rolle, was für einen Film er mitbringt: Hamburg umarmt Fatih Akin bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Einig wie selten treffen sich hier feine Gesellschaft und prollige Underdogs in herzlicher Zugeneigtheit. Akin hat in Hamburg eine ähnliche Wirkung auf die Menschen wie Marcus H. Rosenmüller in München: Er muß nur auf die Bühne joggen und den Mund aufmachen, schon überträgt sich seine Begeisterung auf alle Anwesenden, den Rezensenten eingeschlossen.

Eigentlich ist alles an “Beyond the Hills” unerträglich, aber es ist ein ausgezeichneter Film

Cristian Mungiu steht dagegen eher für eine grimmigere Gangart. Nach seinem mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Abtreibungsdrama 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage hat er für Beyond the Hills ebenfalls in Cannes den Preis für das beste Drehbuch erhalten, die beiden Schauspielerinnen Cosmina Stratan und Cristina Flutur teilten sich die Auszeichnung für die beste Darstellerin, völlig zu Recht. Die junge Alina besucht ihre Freundin Voichita im Kloster, sie kennen sich aus dem Waisenhaus. Alina hat eine Weile in Deutschland gearbeitet und ist kurz zurückgekehrt, weil sie ein Zeugnis braucht für einen Job auf einem Schiff. Eigentlich will sie aber Voichita abholen, deren Entschluß, Nonne zu werden, sie sowieso nicht gutheißt. Der sind das frühere Leben und die Freundschaft inzwischen fremd geworden, sie wehrt sich in gewissem Sinne sogar dagegen. Das Zeugnis wird nicht beschafft, Alina bleibt und man ahnt eine sich anbahnende Katastrophe.

Das Abaton-Kino

Das Abaton-Kino

Von der Stadt aus gesehen liegt das Kloster hinter den Hügeln, daher der Titel. Eigentlich handelt es sich dabei eher um eine Sekte, es sind nur minimale Kontakte nach draußen erlaubt, am Eingang warnt ein handgeschriebenes Schild: “Andersgläubige dürfen das Gelände nicht betreten. Frage nicht, glaube!” Priester und Mutter Oberin tragen nicht einmal Namen. Es herrscht immer geschäftiges Treiben, die Nonnen tun Dienst wie fleißige Mägde. Dennoch ist alles ineffizienter, dilettantischer Leerlauf, nichts geht voran, nichts ist im Griff. Der kaputte Ofen wird nie repariert, nur ständig neu abgedichtet, der Hund reißt sich von jeder Kette los, in den Zellen-Neubauten muß man wegen der Kälte im dicken Mantel schlafen. Voichita ist extrem passiv-aggressiv, ihr dünnes Stimmchen ist immer kurz vor dem Brechen, und wenn ihr nichts mehr einfällt, plappert sie einfach ein paar Sätze des Priesters nach. Alina ist dagegen der aktiv bis aggressive Gegenpart, doch sie hat selbst ein seelisches Problem.

Einem ausländischen Regisseur würde man wohl einen vorurteilsbehafteten Blick auf Rumänien vorwerfen: Die Gesellschaft wirkt rückständig wie im 19. Jahrhundert, alles ist ärmlich und heruntergekommen, die Gemüter sind schlicht, ja, es ist sogar Winter. Bei Mungiu muß man dagegen befürchten, daß man nahe an der Realität ist (abgesehen davon, daß der religiöse Fanatismus im Kloster den meisten Rumänen sicher genau so befremdlich vorkommen dürfte wie uns). Priester und Nonnen haben ein so kleines, abgeschlossenes Weltbild, daß alle Probleme sehr leicht erklärt werden können. Zweifel sind nicht möglich, es gibt keine persönliche Verantwortung, das macht sie so gefährlich. Vor lauter Liebe zu Gott rückt die Nächstenliebe in den Hintergrund, erscheint sogar verwerflich. Das Wunder ist, daß man sich als Zuschauer nicht dauernd schlecht oder unangenehm fühlt, denn eigentlich ist alles an diesem Film unerträglich: die Länge, die Langsamkeit, die fast ununterbrochenen Dialoge. Trotzdem kommt für keinen Moment Langeweile auf, das zeigt Mungius Können.

Xavier Dolan beweist mit Anfang Zwanzig schon mehr Reife, als die meisten ihr Leben lang erreichen

Mein persönlicher Favorit war jedoch Laurence Anyways von Xavier Dolan, der den Art Cinema Award erhielt. Es ist bereits der dritte Film des 1989 geborenen Kanadiers nach seinem Wunderkind-artigen Debut I Killed My Mother und dem ein wenig überschätzten Herzensbrecher, der sich hier einmal mehr als Spezialist für sexuelle Sonderwege erweist. Erst Ende Juni wird der Film in Deutschland anlaufen.

Am Anfang wirkt alles noch recht prätentiös, ein wildes Boheme-Leben wird zelebriert. Nach zwanzig Minuten outet sich dann der coole Lehrer und Gelegenheits-Schriftsteller Laurence seiner Lebensgefährtin Fred gegenüber, einer wilden und attraktiven Künstlerin: Er liebt Frauen, fühlt sich aber schon immer im falschen Körper und will selbst eine werden. Nach einigem Zögern entschließt sich Fred (die ironischerweise einen männlich klingenden Namen trägt), Laurence beizustehen. Es folgt ein jahrelanger emotionaler Ringkampf, die Liebe zwischen Laurence und Fred erscheint so unerreichbar wie die schwarze Insel, zu der sie immer reisen wollen.

Das erinnert ein wenig an Pedro Almodóvar, und zwar im besten Sinne. Dolan beweist mit Anfang Zwanzig schon mehr Reife, als die meisten ihr Leben lang erreichen. Unter Vermeidung von jeglichem Kitsch schafft er, daß man nie das Gefühl hat, einem Problemfilm beizuwohnen. Obwohl Laurences Problem fremd bleiben muß, erscheint es einem irgendwann völlig normal. Laurence, Fred, ihre zickige Schwester, Natalie Baye als Laurences schroffe Mutter und alle anderen Personen in diesem Film sind auf ihre Art scharfsinnig und besitzen auch dann ein Herz, wenn sie gerade gemein sind. Sie sind nicht lustig und schlagfertig wie in einer Screwball Comedy, sondern wie echte Menschen. Insbesondere Suzanne Clément verkörpert die Rolle von Fred herausragend, ist in gewissem Sinn sogar die Hauptfigur.

Trotz einiger Wiederholungen trägt Laurence Anyways auch über seine beachtliche Länge. Die gesamte letzte Stunde könnte man weglassen und hätte trotzdem einen fertigen Film. Der Regisseur will aber mehr und schafft das auch. Er dreht das Rad noch weiter, bis die Gefühle aller Beteiligten so sehr verstrickt sind, daß sie sich nie wieder auflösen lassen werden. Man fragt sich, was für Filme Dolan wohl machen wird, wenn er dreißig, vierzig, fünfzig Jahre alt ist. Bis dahin kann man einem Meister bei der Entwicklung zusehen.

Preise:

Douglas-Sirk-Preis
Kim Ki-duk

Preis der Hamburger Filmkritik
Lore
Regie: Cate Shortland | Deutschland/Australien/GB 2012

Foreign Press Award des Vereins der ausländischen Presse in Deutschland
Ha-Mashgihim / God’s Neighbors
Regie: Meni Yaesh | Israel 2012

TV-Produzenten-Preis
Claudia Schröder (Aspekt Telefilm) für Mörderische Jagd
Regie: Markus Imboden | Deutschland 2012

Montblanc Drehbuch Preis
Kim Fupz Aakeson für Gnade
Regie: Matthias Glasner | Norwegen/Deutschland 2012

Art Cinema Award des Internationalen Verbands der Filmkunsttheater
Laurence Anyways
Regie: Xavier Dolan | Kanada 2012

NDR Nachwuchspreis
Germania
Regie: Maximiliano Schonfeld | Argentinien 2012

Häagen-Dazs Publikumspreis
Hvidsten Gruppen – Nogen må dø for at andre kan leve / This Life
Regie: Anne-Grethe Bjarup Riis | Dänemark 2012

Michel Preis
Blijf! / Bitte bleib!
Regie: Lourens Blok | Niederlande 2011