Karlovy Vary 2012
47. Karlovy Vary International Film Festival
29. Juni – 7. Juli 2012
Sie haben ihren Kafka einfach noch gut drauf in Tschechien. Man kann sich an einem herrlichen Festival in einem schon fast übertrieben herausgeputzten Städtchen erfreuen und gleichzeitig mitten im Geschehen das lauernde Gefühl von Ausgeschlossenheit im Hinterkopf haben.
Es ist ja nicht so, daß irgend etwas in Karlovy Vary chaotisch verlaufen würde. Nein, alles scheint einer präzisen Organisation zu folgen, die aber leider allzu oft undurchschaubar bleibt, nicht zuletzt für die Beteiligten selbst. Widersprüchliche Auskünfte und generellen Mangel an Information kann man allein schon deswegen erwarten, da die meisten Angestellten – selbst in Nobelhotels, wo manche Filmvorführung stattfand – nur eine Handvoll englischer Wörter beherrschen. Dabei hat das Festival lauter junge Leute als Mitarbeiter, die die Sprache inzwischen in der Schule gelernt haben sollten. (Allerdings sind vielleicht die Lehrer noch nicht die besten.) Man wird stets erst einmal auf tschechisch angesprochen und kann schon den Angstschweiß auf der Stirn sehen, wenn der Ticketverkäufer erkennt, daß er einem eine Uhrzeit auf englisch mitteilen muß. Selbst eine Essens-Bestellung an einem Stand auf dem Gelände wird schnell ein kleines Abenteuer.
Dabei verbindet das drittälteste Filmfestival der Welt sehr gut Altes mit Neuem. Karlovy Vary ist ein traditionsreicher Kurort, wie sein deutscher Name Karlsbad bereits verrät. Investoren haben in den letzten Jahren viele alten Gebäude aufgekauft und renoviert. (Da sie und die Touristen in ihrem Gefolge in erster Linie aus Rußland stammen, führen manche Restaurants tatsächlich Speisekarten nur auf russisch, nicht einmal auf tschechisch.) Die Stadt erstrahlt in altem Glanz und wirkt geradezu wie ein Jugenstil-Traum. Man kann stundenlang durch ein Gewirr von überraschend steilen Gassen und prächtigen Straßenzügen wandern, Wasser an einem Heilbrunnen schöpfen oder Fußgängerzonen erleben, in denen aber Autos fahren. Außerhalb der Festival-Woche mag Karlovy Vary jedoch etwas bieder wirken.
Das Festival und sein Gäste aus aller Welt fügen sich jedenfalls problemlos in das Stadtbild ein. Sicher alleine schon aus Mangel an Kinosälen findet ein guter Teil der Vorführungen an altehrwürdigen Orten statt, die einen ausgezeichneten Rahmen für Hommagen an vergangene große Zeiten des Kinos wie Guy Maddins Keyhole oder tatsächlich betagte Filme wie Nosferatu bilden. Andererseits hält der sowieso stattfindende Kurort-Trubel das Festival frisch, es gibt sehr viele junge Besucher, auch viele Einheimische, was immer ein gutes Zeichen ist. Selbst mit dem üblichen omnipräsenten Sponsoring wird recht locker umgegangen.
Ja, man kriegt ein wirklich kafkaeskes Wechselbad geboten – das beginnt schon beim Katalog, der auf ungewöhnliche Weise sowohl höchst praktisch als auch höchst unpraktisch gestaltet ist, eine fast schon surreale Leistung. Ausgesprochene Professionalität wechselt sich ab mit erstaunlichen Fehlleistungen: In jedem Kinosaal werden die Untertitel auf separate Tafeln unterhalb der Leinwand eingeblendet, neben jedem Gast auf der Bühne steht ein Synchronübersetzer. Es gibt Gratis-Festivalbusse, die auf kuriosen Wegen ihre Ziele ansteuern. Dann läßt sich auf den bereitgestellten Browsern die eigene Webseite nicht richtig bedienen, weil sie so proprietär programmiert wurde. Manchmal glaubt man die schrittweise Entwicklung von der Lösung eines alten zur Entstehung eines neuen Problems nachvollziehen zu können: Die Tickets sind unglaublich günstig, der Normalpreis beträgt 65 Kronen (etwa 2,60 Euro). Also neigen viele Besucher dazu, sich auf gut Glück mit Karten für alle möglichen Vorstellungen einzudecken, zu denen dann nur ein Teil auch wirklich erscheint. Um dem entgegen zu wirken, wird der Ticket-Kauf nur für einen Tag im Voraus erlaubt. Das führt wiederum dazu, daß die Leute das beschränkte Potential erst recht ausnutzen, und um 11 Uhr am Vormittag eigentlich alle Vorführungen des folgenden Tages schon ausverkauft sind. Um die leer Ausgegangenen zu vertrösten, werden nun komplizierte Regelungen erdacht, wie man noch Restkarten ergattern kann: an diesem Ticketschalter eine Stunde vor Beginn der Vorführung, an jenem 15 Minuten vorher. Leider wird das in keiner Weise gekennzeichnet, und überall bilden sich hoffnungsvolle Warteschlangen.
Aber das tut der großartigen Stimmung keinen Abbruch; das hervorragende Wetter mag seinen Teil dazu beitragen. Den Fluß entlang erstreckt sich eine beachtliche Festival-Meile mit dem Hotel Thermal als Zentrum. In den Parks finden spontane Konzerte statt, in den Clubs kann man problemlos die Nacht durchmachen. Ein Gutteil der Flaneure wird wohl keinen einzigen Film gesehen haben. Die Musik-Beschallung ist nicht unbedingt aktuell (tagsüber kann man Clandestino von Manu Chao kaum entkommen, nachts covert eine Band tatsächlich Daddy Cool und Rivers of Babylon!), aber sie bleibt charmant. Überhaupt wird ein gewisser Humor gepflegt, sei es in den manchmal leicht pubertären Trailern, der rätselhaften Entscheidung für den Rosaroten Panther als Maskottchen oder den T-Shirts “Mein erstes Mal bei Karlovy Vary”, die einige Mitarbeiter tragen.
Die prominenten Gäste, u.a. Helen Mirren und Susan Sarandon, wurden groß gefeiert, die Auszeichnungen waren eher Nebensache (und nicht einmal im Katalog gelistet). Eine ganze Reihe Retrospektiven wurden veranstaltet, überhaupt war die Filmauswahl reichhaltig. Es wurden nicht nur unbedingt die neuesten Filme gezeigt, aber viel Qualität, und man konnte auf diese Weise einiges nachholen, was man in den letzten ein, zwei Jahren verpaßt hatte. Schade war nur, daß es oft nur eine einzige Vorführung gab. Amokläufe in Schulen scheinen zur Zeit ein recht beliebtes Thema zu sein. Naheliegenderweise war Osteuropa stark im Programm vertreten, hier ging es meist um die kriegerische Vergangenheit oder aber um gegenwärtige junge Frauen, die ihr Heil ohne allzu große Erklärung im Sex suchen. Es liefen auch auffällig viele griechische Filme, vielleicht ist eine Krise ja tatsächlich auch ein Grund für gesteigerte Kreativität.
Vielleicht ist Karlovy Vary auch einfach ein Filmfest für Fortgeschrittene, man muß es erst einmal kennenlernen, um sich darin zurecht zu finden. Ein Erlebnis ist es auf jeden Fall.
Preise:
Kristallkugel (Großer Preis)
Mer eller mindre mann / The Almost Man
Regie: Martin Lund | Norwegen 2012
Spezialpreis der Jury
Romanzo di una strage / Piazza Fontana: The Italian Conspiracy
Regie: Marco Tullio Giordana | Italien 2012
Beste Regie
Camion
Regie: Rafaël Ouellet Kanada 2012
Beste Schauspielerin
Leila Hatami für Peleh akhar / The Last Step
Regie: Ali Mosaffa Iran 2012
Bester Schauspieler
Henrik Rafaelsen für Mer eller mindre mann / The Almost Man
Eryk Lubos für Zabić bobra / To Kill a Beaver
Regie: Jan Jakub Kolski Polen 2012
Lobende Erwähnung für Pavel Liška für Polski film
Regie: Marek Najbrt Tschechien/Polen 2012
Lobende Erwähnung für Tomáš Matonoha für Polski film
Lobende Erwähnung für Marek Daniel für Polski film
Lobende Erwähnung für Josef Polášek für Polski film
Lobende Erwähnung für Yannis Papadopoulos für To agori troi to fagito tou pouliou / Boy Eating the Bird’s Food
Regie: Ektoras Lygizos Griechenland 2012
East of the West Award
Dom s bashenkoy / House with a Turret
Regie: Eva Neymann Ukraine 2011
Lobende Erwähnung für Aurora / Vanishing Waves
Regie: Kristina Buožytė, Bruno Samper Litauen/Frankreich/Belgien 2012
Bester Dokumentarfilm über 30 Minuten
Poslednata lineika na Sofia / Sofia’s Last Ambulance
Regie: Ilian Metev Bulgarien/Kroatien/Deutschland 2012
Bester Dokumentarfilm unter 30 Minuten A Story for the Modlins
Regie: Sergio Oksman Spanien 2012
Lobende Erwähnung für Soukromý vesmír / Private Universe
Regie: Helena Třeštíková Tschechien 2012
Independent Camera Award
Smrt čoveka na Balkanu / Death of a Man in Balkans
Regie: Miroslav Momčilović Serbien 2012
Publikumspreis
Hasta la vista / Come As You Are
Regie: Geoffrey Enthoven Belgien 2011
Kristallkugel für herausragenden künstlerischen Beitrag zum Weltkino
Helen Mirren
Susan Sarandon
Preis des Festivalpräsidenten
Josef Somr
Preise der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique (FIPRESCI)
Peleh Akhar / The Last Step
Preis der Ökumenischen Jury
Camion
Lobende Erwähnung für Estrada de Palha / Hay Road
Regie: Rodrigo Areias Portugal, Finnland 2011
Preis der Federation of Film Critics of Europe and the Mediterranean (FEDEORA)
Poupata / Flower Buds
Regie: Zdeněk Jiráský Tschechien 2011
Preis des Network for the Promotion of Asian Cinema (NETPAC)
Tepenin Ardi / Beyond the Hill
Regie: Emin Alper Türkei/Griechenland 2012
Europa Cinemas Label Award
Romanzo di una strage / Piazza Fontana: The Italian Conspiracy