Monatliches Archiv: Januar 2017
Gautinger Filmgespräch: Büchner. Lenz. Leben
Deutschland 2014 | 108 Min. | Regie: Isabelle Krötsch | mit Hans Kremer u.a.
Dienstag, 24.01.2017
Kino Breitwand Gauting, Bahnhofsplatz 2 / 82131 Gauting
Auf den ersten Blick möchte man den Film als Literaturverfilmung einstufen. Doch bemerkt man bei näherer Betrachtung gleich zwei wichtige Unterschiede. Zum einen bildet hier der Text, der mit lückenloser Treue vorgelesen und anhand einer anspruchsvollen Intonationstechnik erschlossen wird, eine eigene und eigentümliche Ebene, parallel zur Entfaltung der Bildsprache: unabhängig davon und doch darauf bezogen. Damit wird der Unterschied zwischen Textgrundlage und Drehbuch zurückgenommen, der für Literaturverfilmungen typisch ist. Zum anderen wird hier die vertraute Theatererwartung vereitelt, dass die Figuren der Erzählung durchgängig und mit allen Mitteln der Schauspielkunst simuliert werden. Stattdessen tritt hier die zentrale Figur von Lenz teils als Rolle in Erscheinung, teils aber auch als mentales Bild, das vom laut gelesenen Text ausgelöst wird. (Pravu Mazumdar)
Anschließend Filmgespräch mit Regisseurin Isabelle Krötsch und ihrem Ehemann Hans Kremer, der im Film mitspielt.
Starnberger Filmgespräch: Ich, Daniel Blake (I, Daniel Blake)
Vereinigtes Königreich / Frankreich / Belgien 2016 | 100 Min. | Regie: Ken Loach | mit Dave Johns, Hayley Squires, Sharon Percy u.a.
Mittwoch, 01.02.2017, 19:30 Uhr
Kino Breitwand Starnberg, Wittelsbacherstr. 10 / 82319 Starnberg
Es ist grau in Nordengland – der Himmel, die Stellwände, die Sitzmöbel. In der schlechtesten aller Welten ist ein breites Lächeln vielleicht gar nicht so kitschig, wie es klingt. Und Daniel Blake hat es. Wenn er lacht, dann lacht sein ganzes Gesicht – ein Lachen, das besonders in Kindern ein unmittelbares Vertrauen wachsen lässt. Daniel Blake ist ein Witwer, der nach einer schweren Erkrankung das erste Mal die Hilfe des Staates braucht. Dabei trifft er die alleinerziehende Mutter Katie, die mit ihren beiden Kindern Daisy und Dylan auf der Suche nach einer bezahlbaren neuen Bleibe ist. Die beiden tun sich zusammen und kämpfen gemeinsam gegen die Fallstricke der Bürokratie an. Goldene Palme Cannes 2016! (Quelle: Kino Breitwand Starnberg)
Anschließend Filmgespräch mit Kinobesitzer Matthias Helwig und Udo Hahn, Direktor der Evangelische Akademie Tutzing.
Klein, aber fein – Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2016
65. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2016
10. bis 20. November 2016
Das Mannheimer Filmfest mag vielleicht nicht jedem ein Begriff sein, es existiert jedoch durchgehend seit 1952 und ist damit eines der ältesten der Welt. Zudem ist es weltweit das einzige internationale Filmfestival, das ausschließlich Premieren von Newcomer-Regisseuren präsentiert. Neben dem Stadthaus und einem Filmkunstkino in Mannheim wird es seit einigen Jahren gemeinsam mit Heidelberg veranstaltet, momentan leider nur als Verlegenheitslösung in den ehemaligen amerikanischen Baracken.
Ja, das Mannheimer Filmfest ist klein, aber es macht das Beste daraus. Die Organisatoren umsorgen ihre Gäste und sorgen für eine angenehm freundliche Atmosphäre, Vorführungen und Gespräche finden räumlich und zeitlich konzentriert statt, und abends geht man einfach die Treppe rauf zum Empfang: Noch nie war Begegnung so einfach.
Michael Kötz, Direktoren-Urgestein seit 24 (!) Jahren, blickt im Programmheft ironisch auf die Irrungen und Wirrungen seiner Arbeit zurück, mit teils kuriosen Wendungen in der Kommunalpolitik. Inzwischen scheint das Festival aber fest im Sattel zu sitzen, oder wo sonst stellt ein Stadtrat einen Sitzungssaal mal anderthalb Wochen für Veranstaltugen zur Verfügung?
Unsere Jury konnte leider keinen Blick in die anderen Reihen werfen, zu umfangreich war bereits die Auswahl der International Newcomer Competition. Diese erwies sich aber erfreulicherweise bis auf ganz wenige Ausnahmen als stark besetzt – und das bei lauter Erstlingen. Eine Auswahl: Die Belgierin Annick Ghijzelings reist in ihrem Essay 27 Times Time der Zeit rund um die Welt hinterher, Ciaran Creagh führt im irischen In View eine wirklich grimmige Geschichte von Schuld und Sühne zu ihrem düsteren Ende, während sich im heiteren Lost in Armenia des Franzosen Serge Avedikian ein Schauspieler in eine unfreiwillige Köpenickiade im Grenzland zwischen Nationalismus und Schelmenstück verirrt.
Aus den USA kamen zwei sehr unterschiedliche Beiträge. Erica Fae erzählt in To Keep the Light klassisch und streng die historisch angelehnte Emanzipationsgeschichte einer Leuchtturmwärterin aus dem 19. Jahrhundert, die einen (Traum?)Mann aus dem Wasser fischt. Im inspiriert schrägen Calico Skies dagegen darf Tom Sizemore in einem Wüstenkaff vor sich hin modern und mosern, bis er mit einem Knall aus seiner Lethargie erwacht. Regisseur Valerio Esposito und Produzentin Cristina Fanti stammen beide aus Italien, lernten sich aber erst in Kalifornien kennen, wohin beide vor den heimischen Finanzierungsbedingungen geflüchtet waren.
Für einigen Aufruhr sorgte Reseba – The Dark Wind des Deutsch-Irakers Hussein Hassan. Diffamierung der Jesiden wurde dem Film vorgeworfen, es gab sogar eine kleine Demonstration. Ausgerechnet (wie üblich) gegen so einen Film, möchte man hinzufügen. Er handelt von der Leidensgeschichte einer vom IS entführten Braut, deren Schwiegereltern in spe ihr nach der Befreiung aus der Sklaverei die Heirat mit ihrem Sohn verweigern: Sie ist jetzt ja nicht mehr rein. Der Film bleibt dabei so didaktisch und holzschnittartig brav, erfüllt vom tiefen Bestreben, allen gerecht zu werden und niemanden zu beleidigen, daß er auf Fundamentalisten und Hetzer (egal welcher Couleur) wohl gerade dadurch wie ein rotes Tuch wirkt. Daß der Regisseur es geschafft hat, mit Einheimischen an Originalschausplätzen zu drehen, grenzt freilich an ein kleines Wunder.
Auch in Another Time geht es um gesellschaftlichen Druck im religiösen Mantel, die Tochter ist unverhofft schwanger. Professionell und souverän, wie vom iranischen Kunstkino gewohnt, entfaltet sich ein Sittenbild ohne eindimensionale Bösewichte, in dem sich alle Figuren entwickeln dürfen. Regisseurin Nahid Hassanzadeh taucht die Erzählung in kaltes Winterlicht.
Stark an Emir Kusturicas Balkan-Grotesken, aber auch an Jean-Pierre Jeunets magisches Kino erinnert Train Driver’s Diary. Der kauzige alte Zugführer und sein frisch aus dem Märchen adoptierter Zögling überfahren bei ihrer Arbeit erschreckend häufig Menschen und gehen auf sehr unterschiedliche Weise damit um. Für makabre Komödien eher ungewöhnlich vergißt der Film dabei aber nicht, was Mitgefühl und Menschlichkeit sind. Der serbische Regisseur Milos Radovic erhielt gleich vier Auszeichnungen, darunter eine lobende Erwähnung der Ökumensichen Jury, und nannte sich bei seinen leicht slapstick-haften Auftritten den wohl ältesten Debütanten. (Er geht auf das Rentenalter zu.)
The Nest of the Turtledove schließlich handelt von Daryna, die ihr ärmliches Zuhause samt Ehemann hinter sich gelassen hat (nur auf Zeit, wie sie sich selbst versichert), um im reichen Westen als Hausmädchen zu dienen. Ein gefährlich klischee-hafter Ansatz, dem der Regisseur Taras Tkachenko in dieser ukrainisch-italienischen Koproduktion jedoch zu keinem Zeitpunkt auf den Leim geht. Hinter der nüchtern ablaufenden Geschichte entwickelt er ziemlich subtil noch ganz andere Aspekte: wie die Beziehungen und Bedürfnisse aller vom Geld getrieben sind etwa, aber auch die unterschiedliche Einbettung des Lebens in den Glauben. Alle Beteiligten schlingern durch einen moralischen Graubereich und kämpfen darum, nicht abzustürzen. The Nest of the Turtledove erhielt den Preis der Ökumenischen Jury; diese bestand aus dem Kameramann Nicolae Cara, dem Filmemacher Franz Indra, der Filmkritikerin Magali van Reeth und dem Seelsorger Dominik Gehringer, unter Leitung der Pastorin Ingrid Glatz-Anderegg.
Videos der Preisverleihungen sind im Vimeo-Kanal des Festivals abrufbar.