Weitere Festivals
Klein, aber fein – Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2016
65. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2016
10. bis 20. November 2016
Das Mannheimer Filmfest mag vielleicht nicht jedem ein Begriff sein, es existiert jedoch durchgehend seit 1952 und ist damit eines der ältesten der Welt. Zudem ist es weltweit das einzige internationale Filmfestival, das ausschließlich Premieren von Newcomer-Regisseuren präsentiert. Neben dem Stadthaus und einem Filmkunstkino in Mannheim wird es seit einigen Jahren gemeinsam mit Heidelberg veranstaltet, momentan leider nur als Verlegenheitslösung in den ehemaligen amerikanischen Baracken.
Ja, das Mannheimer Filmfest ist klein, aber es macht das Beste daraus. Die Organisatoren umsorgen ihre Gäste und sorgen für eine angenehm freundliche Atmosphäre, Vorführungen und Gespräche finden räumlich und zeitlich konzentriert statt, und abends geht man einfach die Treppe rauf zum Empfang: Noch nie war Begegnung so einfach.
Michael Kötz, Direktoren-Urgestein seit 24 (!) Jahren, blickt im Programmheft ironisch auf die Irrungen und Wirrungen seiner Arbeit zurück, mit teils kuriosen Wendungen in der Kommunalpolitik. Inzwischen scheint das Festival aber fest im Sattel zu sitzen, oder wo sonst stellt ein Stadtrat einen Sitzungssaal mal anderthalb Wochen für Veranstaltugen zur Verfügung?
Unsere Jury konnte leider keinen Blick in die anderen Reihen werfen, zu umfangreich war bereits die Auswahl der International Newcomer Competition. Diese erwies sich aber erfreulicherweise bis auf ganz wenige Ausnahmen als stark besetzt – und das bei lauter Erstlingen. Eine Auswahl: Die Belgierin Annick Ghijzelings reist in ihrem Essay 27 Times Time der Zeit rund um die Welt hinterher, Ciaran Creagh führt im irischen In View eine wirklich grimmige Geschichte von Schuld und Sühne zu ihrem düsteren Ende, während sich im heiteren Lost in Armenia des Franzosen Serge Avedikian ein Schauspieler in eine unfreiwillige Köpenickiade im Grenzland zwischen Nationalismus und Schelmenstück verirrt.
Aus den USA kamen zwei sehr unterschiedliche Beiträge. Erica Fae erzählt in To Keep the Light klassisch und streng die historisch angelehnte Emanzipationsgeschichte einer Leuchtturmwärterin aus dem 19. Jahrhundert, die einen (Traum?)Mann aus dem Wasser fischt. Im inspiriert schrägen Calico Skies dagegen darf Tom Sizemore in einem Wüstenkaff vor sich hin modern und mosern, bis er mit einem Knall aus seiner Lethargie erwacht. Regisseur Valerio Esposito und Produzentin Cristina Fanti stammen beide aus Italien, lernten sich aber erst in Kalifornien kennen, wohin beide vor den heimischen Finanzierungsbedingungen geflüchtet waren.
Für einigen Aufruhr sorgte Reseba – The Dark Wind des Deutsch-Irakers Hussein Hassan. Diffamierung der Jesiden wurde dem Film vorgeworfen, es gab sogar eine kleine Demonstration. Ausgerechnet (wie üblich) gegen so einen Film, möchte man hinzufügen. Er handelt von der Leidensgeschichte einer vom IS entführten Braut, deren Schwiegereltern in spe ihr nach der Befreiung aus der Sklaverei die Heirat mit ihrem Sohn verweigern: Sie ist jetzt ja nicht mehr rein. Der Film bleibt dabei so didaktisch und holzschnittartig brav, erfüllt vom tiefen Bestreben, allen gerecht zu werden und niemanden zu beleidigen, daß er auf Fundamentalisten und Hetzer (egal welcher Couleur) wohl gerade dadurch wie ein rotes Tuch wirkt. Daß der Regisseur es geschafft hat, mit Einheimischen an Originalschausplätzen zu drehen, grenzt freilich an ein kleines Wunder.
Auch in Another Time geht es um gesellschaftlichen Druck im religiösen Mantel, die Tochter ist unverhofft schwanger. Professionell und souverän, wie vom iranischen Kunstkino gewohnt, entfaltet sich ein Sittenbild ohne eindimensionale Bösewichte, in dem sich alle Figuren entwickeln dürfen. Regisseurin Nahid Hassanzadeh taucht die Erzählung in kaltes Winterlicht.
Stark an Emir Kusturicas Balkan-Grotesken, aber auch an Jean-Pierre Jeunets magisches Kino erinnert Train Driver’s Diary. Der kauzige alte Zugführer und sein frisch aus dem Märchen adoptierter Zögling überfahren bei ihrer Arbeit erschreckend häufig Menschen und gehen auf sehr unterschiedliche Weise damit um. Für makabre Komödien eher ungewöhnlich vergißt der Film dabei aber nicht, was Mitgefühl und Menschlichkeit sind. Der serbische Regisseur Milos Radovic erhielt gleich vier Auszeichnungen, darunter eine lobende Erwähnung der Ökumensichen Jury, und nannte sich bei seinen leicht slapstick-haften Auftritten den wohl ältesten Debütanten. (Er geht auf das Rentenalter zu.)
The Nest of the Turtledove schließlich handelt von Daryna, die ihr ärmliches Zuhause samt Ehemann hinter sich gelassen hat (nur auf Zeit, wie sie sich selbst versichert), um im reichen Westen als Hausmädchen zu dienen. Ein gefährlich klischee-hafter Ansatz, dem der Regisseur Taras Tkachenko in dieser ukrainisch-italienischen Koproduktion jedoch zu keinem Zeitpunkt auf den Leim geht. Hinter der nüchtern ablaufenden Geschichte entwickelt er ziemlich subtil noch ganz andere Aspekte: wie die Beziehungen und Bedürfnisse aller vom Geld getrieben sind etwa, aber auch die unterschiedliche Einbettung des Lebens in den Glauben. Alle Beteiligten schlingern durch einen moralischen Graubereich und kämpfen darum, nicht abzustürzen. The Nest of the Turtledove erhielt den Preis der Ökumenischen Jury; diese bestand aus dem Kameramann Nicolae Cara, dem Filmemacher Franz Indra, der Filmkritikerin Magali van Reeth und dem Seelsorger Dominik Gehringer, unter Leitung der Pastorin Ingrid Glatz-Anderegg.
Videos der Preisverleihungen sind im Vimeo-Kanal des Festivals abrufbar.
Ich habe doch nichts getan – Kurzfilmtage Oberhausen 2015
61. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen
30. April bis 05. Mai 2015
„Aber ich habe ihm doch nichts getan, ich habe ihm nichts angetan!“, jammert der Mann mit den auffälligen Gesichtszügen. Er stellt Judas dar. Gleich wird er sich eine Ku-Klux-Klan-artige Kapuze überziehen und mit seinen Kompagnons die große Holzfigur auf einem Lastwagen durch die Straßen fahren, um den Verräter symbolisch zu verbrennen.
Es ist keine schöne österliche Tradition, die sich der spanische Regisseur David Pantaleón für La pasión de Judas / The Passion of Judas ausgesucht hat, wird hier doch ganz unchristlich die Rache zelebriert. Seine Wirkung entfaltet der Film aber vor allem, da er den Brauch nicht einfach dokumentiert hat: Eine Laientruppe von Menschen mit Handicap inszeniert ihn sozusagen öffentlich, in klar gesetzten Bildern fotografiert. Dafür wurde er von der Ökumenischen Jury, bestehend aus den Medienpädagogen Theresia Merz und Eberhard Streier, dem Vizepräsidenten von Signis Europa, Théo Peporte, und dem Filmemacher Franz Indra, ausgezeichnet.
Leicht fiel darüber hinaus die Wahl für die Kaufempfehlung eines Kinder- oder Jugendfilms: Tisina Mujo / Der stille Mujo von Ursula Meier ist ein Film, in dem alles paßt: die überraschende Wendung vom Fußballplatz zum Friedhof, wo der verschossene Ball gesucht werden muß; die beiläufige Verortung im heutigen Sarajewo; die akzentuierte Bildsprache; der wortkarge Dialog auf Augenhöhe zwischen Trauernder und Kind.
Freilich gab es im Internationalen Wettbewerb eine Vielzahl weiterer bemerkenswerter Werke, die eine erstaunliche Bandbreite abdeckten. Diese begann bei mit sehr genauem Blick gedrehte Studien; beispielhaft genannt seien hier Renunciation von Ieva Epnere aus Lettland, in dem ein Pfarrer und zwölf Bäuerinnen sorgsam ihre Trachten anlegen, bevor sie in die Kirche gehen und gemeinsam singen, Earth and Shape des kasachischen Regisseurs Alexander Ugay, der halb heruntergekommene auf futuristische Architektur treffen läßt und mit ihr das heutige Leben auf das alte Olympia, sowie Paradies, in dem der Schweizer Max Philipp Schmid einen auch inszenatorisch von feinem Humor durchzogenen Blick auf das Kleingärtner-Glück hinter hohen Hecken und Zäunen wirft. Weiter ging es über visuelle Vignetten wie Panchrome I, II, III von T. Marie aus den USA oder Haus und All der Österreicherin Antoinette Zwirchmayr zu klassischen Animations- und Experimentalfilmen, etwa Descent von Johan Rijpma aus den Niederlanden oder Love Me der Kanadierin Barbara Sternberg, der nur aus Text besteht. Schließlich gab es auch geradezu erbarmungslose autobiographische Analysen. Im mit dem Hauptpreis ausgezeichneten Film 32 and 4, verfolgt Chan Hau Chun mit der Kamera ihre schon lange getrennt lebenden Eltern in deren winzige Wohnungen in Hong Kong. My Mommy aus Norwegen zeigt die Therapie-Sitzung einer als Kind mißbrauchten Frau – der Film endet mit einem schrecklichen Kameraschwenk auf den beobachtenden Regisseur, ihren Sohn.
Umgekehrt trafen die Jurys bei der stattlichen Anzahl von Preisen auch Entscheidungen, mit denen man nicht unbedingt einverstanden sein muß – allerdings wäre bei dieser Auswahl nichts irritierender gewesen als einheitliche Urteile. Oberhausen bleibt sich treu, im besten Sinne. Das nach eigener Auskunft älteste Kurzfilmfest der Welt hat weiterhin viele Filme im Programm, die zu zeigen sich andere Festivals nicht trauen würden: zu experimentell, zu wenig zugänglich, zu „schwierig“. Hier kann man halbstündige Filme ohne Dialog sehen, abstrakte Bildkompositionen (mit oder ohne Computer erzeugt), Einblicke in fremde Innenwelten und auch ein paar einfach bizarre Stücke. Bei den Kurzfilmtagen ist tatsächlich der narrative Film der Exot.
Über 500 Filme in knapp 60 Blöcken – trotz sieben (!) Zeitschienen wurden nur die wenigsten Programme wiederholt, was sicher auch an den begrenzten Räumlichkeiten liegt. Neben den drei Wettbewerben, den Kinder- und Musik-Reihen gab es gleich fünf Retrospektiven, Programme von Verleihern und aus verschiedenen Archiven und viele Specials. Man würde den Kurzfilmtagen fast ein wenig mehr Beschränkung wünschen. Mit dieser Fülle hätte man problemlos eine weitere Woche bespielen können; so mußte man einiges verpassen, was das Interesse geweckt hatte. Godard im 3D-Programm, Jennifer Reeder, der deutsche Wettbewerb, das Super8-Fühwerk von Derek Jarman (ganz zu schweigen von den Diskussionsveranstaltungen), es war einfach zu wenig Zeit.
Festivalleiter Lars Henrik Gass hat die 61. Auflage der Kurzfilmtage gewohnt souverän gemeistert, nichts merkte man von kurz erwähnten katastrophalen Ausfällen wenige Wochen vor Festivalbeginn. Eher kann man den Eindruck gewinnen: Bürgermeister kommen und gehen, Gass bleibt. Und für den in der Abschlußrede wie nebenbei erwähnten Vorschlag, ein schon lange leer stehendes Kino als weitere Veranstaltungsstätte zu reaktivieren, wünschen wir viel Glück!
Filmfest München 2013
31. Filmfest München
28. Juni bis 6. Juli 2013
Dieses Jahr fand das Münchner Filmfest erstmals unter der Leitung von Diana Iljine statt, die in die großen Fußstapfen von Eberhard Hauff und Andreas Ströhl treten mußte: Sie hat sie ganz gut ausgefüllt, es war wie gewohnt eine entspannte und gut gelaunte Woche. Auf die neuen Reihen zu Fernsehserien bzw. Computerspielen hätte man auch getrost verzichten können, das Multiplex-Kino als Festival-Zentrum wurde dagegen dankenswerterweise durch die Aufnahme weiterer altgedienter Programmkinos wie dem “City” und der “Münchner Freiheit” ersetzt. Das Poster-Motiv stammte dieses Mal von einem der letzten Kinoplakat-Maler (er nahm wie üblich ein Foto als Vorlage), das auch im etwas simplen Trailer verwendet wurde.
Die Nebenveranstaltung deckten die ganze Bandbreite ab: von für größeres Publikum von Interesse (z.B. zu Filmmusik oder dem neuen Dauerbrenner Crowdfunding) über eher fachlich-intern (wie den “Self Made Shorties” mit selbst oft recht witzig gestalteten Schauspieler-Tapes zum Thema “Heimat”) bis hin zu offensichtlich absurd (Podiumsdiskussion der FDP). Neben vielen weiteren Gästen – u.a. Ulrich Tukur, Caroline Link, Michael Verhoeven, Paolo Sorrentino, Asghar Farhadi, Mike Figgis und Nicolas Winding Refn – konnte man mit Michael Caine, der den Ehrenpreis erhielt, auch wieder einen internationalen Star aufbieten.
Mit “La noche de enfrente” / “Night Across the Street” wurde quasi das Testament des 2011 verstorbenen Raoul Ruiz gezeigt. Ruiz, 1973 nach dem Pinochet-Putsch ins Exil nach Frankreich und später Portugal gezwungen, war kurz vor seinem Tod in seine Heimat Chile zurückgekehrt; La Noche zeigt denn auch den Rückblick eines alten Mannes auf sein Leben. Wir befinden uns in Südamerika: Natürlich geht es auch um den Faschismus. Auch wenn es sich um die Adaption einiger Kurzgeschichten von Hernán del Solar handelt, wirkt der Film sehr autobiographisch. Die Gleichzeitigkeit der Zeitebenen, Greis und Knabe treten nebeneinander auf, ist ein schöner Einfall und sorgt für eine entspannte Grundstimmung, obwohl der Film schon ganz in Erwartung des Todes steht. Einzig die Inszenierung der Kinder gelang dem alten Regisseur nicht so überzeugend, wie man das heutzutage erwartet.
Der eigentliche Held des Festivals war aber ein anderer Chilene, Alejandro Jodorowsky. Der erstaunlich agile 84-Jährige (!) hatte er seinen neuen Film “La danza de la realidad” im Gepäck – tatsächlich erst sein siebter (der bislang letzte datiert auf 1990). Vor allem aber hatte Jodorowsky endlich den Streit mit seinem ehemaligen Produzenten Allen Klein beigelegt und konnte damit seine alten Meisterwerke “El topo”, “Montana Sacra” und “Santa sangre” präsentieren, farbkorrigiert und auf großer Leinwand. Diese berüchtigten Klassiker des surrealen Films waren jahrzehntelang von Klein unter Verschluß gehalten worden, es gab nur einige schrabbelige VHS-Kopien, die Jodorowsky damals “großzügig an Piraten verteilt” hatte, wie er bei seinen Auftritten launig anmerkte.
Jodorowskys Filme sind wahrlich einzigartig, ein bildgewaltiger Symbol-Overkill quer durch alle Religionen und Glaubensrichtungen. Sie sprengen nicht nur das Korsett ihrer Handlung, sondern verweigern sich auch jeglicher Beschreibung. Einmal spielen Kröten und Eidechsen die Eroberung Mittelamerikas durch die Spanier nach. Seine Filme sind eine ganz eigene Erfahrung. (Empfindliche Gemüter werden freilich viele Anlässe finden, sich beleidigt zu fühlen.) Jodorowsky ist ein Mystiker, in “Montana Sacra” spielt er den Alchemisten. Frohgemut und gut gelaunt unterhielt er das Publikum bei seinen Auftritten, er ist sicher aber auch eine schwierige Persönlichkeit, die sogar das Kunststück fertig brachte, sich mit George Harrison zu zerstreiten. Sein (natürlich ergebnisloser) Ausflug nach Hollywood wäre nur eine Fußnote der Filmgeschichte, hätte er nicht während der Entwicklung von “Dune”, für den er zeitweise als Regisseur vorgesehen war, Ridley Scott und H.R Giger miteinander bekannt gemacht. Der kommerzielle Film ist heute noch sein Feindbild: “Manche wollen eben lieber ‘Iron Man 3′ sehen.”
Preise:
Arri/Osram Award
Heli
Regie: Amat Escalante
Förderpreis Neues Deutsches Kino
Regie: Jakob Lass für Love Steaks
Produktion: Ines Schiller und Golo Schultz für Love Steaks
Drehbuch: Jakob Lass, Timon Schäppi, Ines Schiller und Nico Woche für Love Steaks
Schauspiel: Lana Cooper und Franz Rogowski für Love Steaks
CineVision Award
Halley
Regie: Sebastián Hofmann
Môj Pes Killer / My Dog Killer
Regie: Mira Fornay
One Future Preis
Freedom Bus
Regie: Fatima Geza Abdollahyan
Lobende Erwähnung für Dancing In Jaffa
Regie: Hilla Medalia
Ehrenpreis: AZ-Kritikerin Ponkie
Bernd Burgemeister Fernsehpreis
Kirsten Hager für Pass gut auf ihn auf
Regie: Johannes Fabrick
Bayern 3 Publikumspreis
Freedom Bus
Kinderfilmfest-Publikumspreis
Ernest & Célestine
Regie: Benjamin Renner, Vincent Patar und Stéphane Aubier
Berlinale 2013
63. Internationale Filmfestspiele Berlin
07. bis 17. Februar 2013
Über Berlin (aka das Griechenland Deutschlands) gibt es ja viele Klischees, und manche werden prompt bestätigt: Es ist eiskalt, die Stadt ist riesengroß, die S-Bahn fährt nur gelegentlich – aber manchmal kriegt man ganz freundlich Auskunft, wenn man nach dem Weg fragt.
Gemeinsam mit den Festivals von Cannes und Venedig hat die Berlinale das Triple-A-Rating, und auch wenn es dieses Jahr – wie das öfteren angemerkt worden ist – bedenklich wenig Uraufführungen im Wettbewerb gab, wird dieser Anspruch doch erfüllt. Das Festival besitzt eine ungemeine Anziehungskraft auf Filmemacher aus aller Welt. Alleine der Talent Campus, die Plattform für den Nachwuchs, hatte Vorträge von Paul Verhoeven, Ken Loach, Ulrich Seidl, Jane Campion, Anita Ekberg, Cutter-Legende Walter Murch und vielen anderen im Programm – wo kriegt man das sonst schon geboten?
Das Programm vermeidet angenehmerweise eine Zersplitterung in zu viele Sektionen, dankenswerterweise gibt es auch keine Fernseh-Sparte. Die Organisation funktioniert weitgehend vorbildlich, sogar die Warteschlangen organisieren sich von selbst, ohne daß sich jemand vordrängelt. Und Schlange stehen muß man viel, auch “normales” Publikum drängt ins Kino, und nicht nur Vorführungen von großen Filmen sind regelmäßig ausverkauft – ein sehr gutes Zeichen. Manch ein Berliner stellt sich jeden Morgen von Neuem an, um keinen Festival-Tag zu verpassen (und Akkreditierte müssen das sowieso). Wenn man es dann geschafft hat, kann man sich im Kinosessel zurücklehnen und von der Jahr für Jahr gleichen beruhigenden Trailer-Musik einlullen lassen.
Was für Filme werden gezeigt? In den Wettbewerb ist als Zuschauer kaum hinein zu kommen, das Programm des Forum Expanded besteht zu einem guten Teil aus leicht esoterisch angehauchte Videokunst. Die meisten Filme laufen im Forum und im Panorama, wobei sich die neuen Namen eher im Panorama finden.
Exposed
Ein Beispiel dafür ist Exposed von Beth B, deren Zugehörigkeit zur alternativen Szene sich bereits im abgekürzten Künstlernamen spiegelt. Ihr Portrait einer Reihe von Burlesque-Tänzerinnen und -Tänzern ist formal eine recht brave Doku mit manchmal etas behelfsmäßig gefilmten Material. Interessant wird der Film auf zweierlei Art: Zum einen befinden wir uns hier wirklich im New Yorker Underground, die dargestellten Künstler sind deutlich rabiater und extremer, als man es vom aktuellen leichten Burlesque-Hype her so kennen mag (vom geleckten Glanz einer Dita von Teese ganz zu schweigen). Hier sehen wir Menschen – aus ganz unterschiedlichem Hintergrund und mit sich zum Teil direkt widersprechenden Ansichten -, die sich an einem ganzen Schwall existenzieller Probleme aufreiben oder lachend über sie triumphieren. Wie entblößend nahe die Filmemacherin ihnen kommt und mit welcher Selbstverständlichkeit ihr das gelingt, ohne jede Gefahr der Zurschaustellung, ist das andere Erstaunliche an Exposed.
Im Publikumsgespräch erinnerte sich Beth B sehr wohlwollend an einen Besuch in Berlin vor dem Mauerfall. Nach den Auswirkungen des neuen, “sauberen” New York gefragt, beklagte sie zwar einen dramatischen Einbruch der Künstlerszene seit den Siebzigern; auch die Burlesque-Shows würden oft zensiert. Trotzdem werden sich Kreativität und Anarchie natürlich nie aus New York vertreiben lassen. Auch ihren Film muß sie eher Guerilla-artig vertreiben; möge er über DVDs und Sondervorführungen noch viele Zuschauer finden.
Stemple Pass
Ein ganz anderer amerikanischer Künstler und wahrer Berlinale-Dauergast in James Benning. Nachdem er zuletzt Gefahr lief, sich zu wiederholen (13 Lakes, Ten Skies, Twenty Cigarettes), besann er sich nun wieder auf seine Anfänge und erlaubte auch das gesprochene Wort in seinem aktuellen Mammut-Projekt über den Schriftsteller Henry David Thoreau (Walden) und Theodore Kaczynski, den berüchtigten Unabomber. Beide lebten lange als Eremit in den Wäldern, ihre Hütten ließ Benning für mehrere Installationen und Filme nachbauen.
Auf der Berlinale präsentierte er Stemple Pass, der sich auf den Terroristen beschränkt. Frühling, Sommer, Herbst und Winter – zu jeder Jahreszeit sehen wir eine halbe Stunde lang die herbe Landschaft mit der Hütte darin, jeweils in der für Benning typischen unbewegten Totalen. Dazu liest er aus dem Off aus Kaczynskis Tagebuch. Die Texte steigern sich von leicht kuriosen Eingewöhnungsproblemen in die selbst gewählte Isolation über pazifistisch angehauchte Zurück-zur-Natur-Slogans hin zu erbarmungsloser Freude über die erfolgreiche Verstümmelung und Ermordung Unschuldiger. Wer mit Bennings Manierismus nichts anfangen kann, wird auch diesen Film als Qual empfinden. Selten wurde aber die Tür in die hermetisch abgeriegelte Geisteswelt des Unabombers so weit geöffnet.
A Single Shot
Kommen wir zu leichterer Kost: Ein Mann geht auf die Jagd, schießt auf ein Reh, trifft stattdessen eine junge Frau, sie stirbt sofort. Bei ihr findet er eine Tasche voller Geld. Von nun an geht es bergab.
So ließe sich im Prinzip A Single Shot von David M. Rosenthal zusammenfassen, der auf Hollywoods Noir-Revival-Welle mitschwimmt. Die ist spätestens seit Drive in vollem Gange, mit besonderem Augenmerk auf den Appalachen, siehe Killer Joe und vor allem natürlich Winter’s Bone. Die Landschaft und die Menschen darin haben nichts mit dem 21. Jahrhundert und modernen westlichen Werten zu tun, sie wirken wie ein Blick in die Vergangenheit, außerhalb der Zivilisation – der Wilde Westen, nur mit besseren Waffen, Pick-Ups und Handys. Eine ganze Gesellschaft versinkt in Armut und billigen Drogen, der Urlaub auf Hawaii (quasi dem Gegenpol innerhalb der USA) bleibt ein ferner Traum.
Die Handlung erfüllt die Genre-Erwartungen, die Atmosphäre stimmt, das Bild ist schon fast zu dunkel. Matthew F. Jones, der vor 17 Jahren den zugrunde liegenden Roman schrieb, hängt sich bei seiner Drehbuch-Adaption aber leider allzu sehr an der Plot-Konstruktion auf. Die Musik übertreibt ihre Dramatik manchmal so weit, daß sie albern wirkt, und auch bei der Bildsprache gehen der Symbolik manchmal die Pferde durch – dann ist sie wieder großartig. Schade, aus dem sehenswerten hätte ein bemerkenswerter Film werden können.
Die Schauspieler sprechen so hingebungsvoll den gewünschten Slang, daß das Publikum in London bei Test-Screenings tatsächlich Untertitel brauchte. Laut Regisseur handelt es sich bei A Single Shot um einen Independent-Film, in Europa wäre er eine Großproduktion. Bei der Vorführung war quasi die halbe Crew anwesen, neben Regisseur, Autor und Produzenten die Schauspieler Ophelia Lovibond und Jeffrey Wright sowie der Schnitt-Assistent, diverse Co-Produzenten usw. – nur Hauptdarsteller Sam Rockwell saß wegen eines Blizzards in New York fest.
Terra de ninguém / No Man’s Land
Die Portugiesin Salomé Lamas setzt in Terra de ninguém / No Man’s Land einen netten älteren Mann auf einen Stuhl und läßt ihn erzählen: von seiner Zeit als Söldner in Angola, im geheimen Staatsdienst als Auftragskiller an ETA-Leuten, schließlich in jahrelanger Einzelhaft. “Ich habe nur schlechte Menschen getötet. Eigentlich hätte ich auch mich töten sollen, denn ich bin auch ein schlechter Mensch.” Nichts davon ist nachweisbar, vieles erscheint glaubhaft. Die Regisseurin beklagte im Publikumsgespräch denn auch das in Portugal immer noch vorherrschende Schweigen über Greuel in den Kolonien und im Kampf gegen den Separatisten-Terror.
Unfaßbar aber ist die totale Gefühlskälte des Mannes, der seinen Lebensabend als Obdachloser verbringt. Mit geradezu kindlicher Freude erzählt er von den verübten Massakern in Afrika, lobt seine Professionalität bei den Auftragsmorden. Und immer, wenn man meint, seine Erinnerungen könnten ihn wenigstens zu einem Anflug von Schuld- oder Mitgefühl führen, bringt er einen besonders menschenverachtenden Spruch und gluckst vor sich hin. Ein Film, der Angst macht.
Paradies: Hoffnung
Nach Welt-Uraufführungen in Cannes und Venedig ist Ulrich Seidl mit seiner Paradies-Trilogie ein echter Festival-Hattrick gelungen, Paradies: Hoffnung wurde nun in Berlin gezeigt. Erst findet Mutti Gefallen an den beach boys in Kenia, dann quält sich die Tante durch ihre eifernde Frömmigkeit, schließlich wird die Tochter ins FettDiät-Camp verfrachtet: Überall kann man das Paradies finden. Die 13-jährige Melanie, gespielt von der 13-jährigen Melanie Lenz, verliebt sich heil- und hilflos in den viermal so alten Arzt. Ulrich Seidl breitet mal wieder ein Gruselkabinett der Spießigkeit aus. Die Klischees sind Wirklichkeit geworden, der Film wirkt echter als das echte Leben.
Ja, making a film with Seidl: Wie er mit Laien arbeitet, ist immer wieder erstaunlich. Seidl führt seine Figuren nie vor, er beläßt ihnen nicht nur ihre Würde, sondern macht sogar Helden aus ihnen (auch wenn das Publikum manchmal über sie lacht). Erneut hat er nur einige wenige professionelle Schauspieler wie Joseph Lorenz als Arzt besetzt, und wie natürlich all die Teenager ihre schwierigen Szenen spielen, ist schlichtweg unfaßbar. Und eigentlich ist es bei Seidl am Ende nie so schlimm, wie es zuerst scheint. Seine Filme kommen ohne katastrophale dramatische Zuspitzungen aus und ähneln auch darin der Realität. Melli, ihre durchsetzungskräftige Co-“Insassin” Verena, der von den ungelenken Annäherungsversuchen gleichermaßen geschmeichelte wie überforderte Arzt, sie alle stolpern durch ein verwirrendes Leben und versuchen, sich darin zurecht zu finden. Nie fühlt man sich als Zuschauer in der Position, über sie zu urteilen.
Im Wettbewerb geriet Paradies: Hoffnung dann doch bald in Vergessenheit, vielleicht war sein Thema einfach zu wenig skandalträchtig. Dem Publikum hat der Film jedenfalls gefallen, es klatschte mit, als zum Abspann das Motivations-Lied aus dem Film wiederholt wurde: “If you’re happy and you know it, clap your fat.”
Preise der Internationalen Jury:
Goldener Bär für den Besten Film
Poziţia Copilului / Child’s Pose
Regie: Calin Peter Netzer
Großer Preis der Jury (Silberner Bär)
Epizoda u životu beraca željeza / An Episode in the Life of an Iron Picker
Regie: Danis Tanović
Alfred-Bauer-Preis (Silberner Bär)
Vic+Flo ont vu un ours / Vic+Flo Saw a Bear
Regie: Denis Côté
Preis für die beste Regie (Silberner Bär)
David Gordon Green für Prince Avalanche
Regie: David Gordon Green
Preis für die beste Darstellerin (Silberner Bär)
Paulina García in Gloria
Regie: Sebastián Lelio
Preis für den besten Darsteller (Silberner Bär)
Nazif Mujić in Epizoda u životu beraca željeza / An Episode in the Life of an Iron Picker
Preis für das beste Drehbuch (Silberner Bär)
Jafar Panahi für Pardé / Closed Curtain
Regie: Jafar Panahi, Kamboziya Partovi
Preis für eine herausragende künstlerische Leistung aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design (Silberner Bär)
Aziz Zhambakiyev für die Kamera in Uroki Garmonii / Harmony Lessons
Regie: Emir Baigazin
Lobende Erwähnung für Promised Land
Regie: Gus Van Sant
Lobende Erwähnung für Layla Fourie
Regie: Pia Marais
Filmfest Hamburg 2012
20. Filmfest Hamburg
27. September – 6. Oktober 2012
Hamburg umarmt Fatih Akin, und Kim Ki-Duk singt
Wenn das Wetter mitspielt, kann Hamburg auch Ende September noch sehr charmant sein. Eine angenehm wärmende Sonne und ein sanfter Windhauch laden zu Spaziergängen zwischen den Filmen ein, die ersten fallenden Blätter bereiten dem Besucher einen roten Teppich zurück ins Kino. Neben dem auf großen Festivals inzwischen anscheinend unvermeidlich gewordenen Multiplex als Massen-Abspielstätte und gesichtslosem Rahmen für die Empfänge erwies sich der Allende-Platz im Univiertel als das eigentliche Herz des 20. Filmfests Hamburg: Das angrenzende Abaton, eines der ältesten Programmkinos Deutschlands und immer noch ein großer Name, ist selbstverständlich eingebunden, auf dem (Park-)Platz selbst war das Festival-Zelt aufgebaut und mit einem kuriosen Mannhaus “gesichert”.
Das Programm selbst erwies sich als die übliche bunte Tüte: Weltkino in verschiedenen Programmblöcken (u.a. Lateinamerika, frankophones Kino und speziell Québec sowie der übliche Verdächtige Asien), mehr oder weniger schlüssig zusammengestellte Themensektionen (Umwelt, Publikumserfolge aus Europa, Tanz), Kinder- und Fernsehfilme. Eine gewisse Übersättigung läßt sich nicht leugnen, zumal sich die Festivals trotz oder gerade wegen dieser etwas beliebig wirkenden Ausfächerung einander immer ähnlicher werden. Insbesondere die Fernsehfilme, seit Jahren auch in Berlin und München fester Bestandteil, rechtfertigen ihre Anwesenheit eher selten durch Qualität – es ist recht offensichtlich, daß damit Eitelkeiten der Branche bedient werden (und viele Gäste bereit stehen, um Diskussionsrunden und Premierenparties zu füllen).
Kaspar Hauser als DJ mit Kopfhörern – gespielt von einer Frau
Doch wird man ja nirgendwo zur Teilnahme gezwungen, und so ließen sich viele interessante Stoffe und auch einige Perlen im Programm finden. Ein echtes Kuriosum war etwa La leggenda di Kaspar Hauser / Die Legende von Kaspar Hauser des Italieners Davide Manuli, der aus der schon längst von Legendenbildung überlagerten historischen Begebenheit endgültig eine Parabel macht. Ufos fliegen über den Sheriff hinweg, dann tanzt er ein Duell auf Leben und Tod mit dem Drogendealer. Als Kaspar Hauser an den Strand gespült wird, nimmt er sich seiner an und will ihm beibringen, DJ zu werden. Doch auch die Herzogin und der Priester interessieren sich für den Knaben, der von einer Frau gespielt wird.
Es sind deutlich surreale Szenen, die in klarem Schwarz-Weiß gefilmt sind, fast immer ohne Schnitt, oft mit unbewegter Kamera. Auch die ironisch übersteigerte Kostümierung der Figuren, die ja gesellschaftliche Rollen und keine individuellen Personen darstellen, trägt ihren Teil zur starken visuellen Stilisierung bei. Am deutlichsten prägt den Film jedoch der von Vitalic beigesteuerte Elektro-Soundtrack, etliche Szenen muten geradezu wie Videoclips an. Das funktioniert erstaunlich gut, Kaspar zuckt und zappelt zu den wummernden Bässen und trägt immerzu Kopfhörer, die ihn von der Außenwelt trennen. Vincent Gallo ist in einer Doppelrolle als Sheriff und Pusher zu sehen, der eigentliche Glücksgriff ist aber die Performance-Künstlerin Silvia Calderoni als Kaspar Hauser, die der Regisseur erst direkt vor Drehbeginn gecastet hat. Sie begreift die Figur sehr körperlich, nicht Kaspars wenige gesprochenen Sätze sind entscheidend, sondern die vielen subtilen Bewegungen. Man wünscht dem Film Erfolg bei der sicher nicht aussichtsreichen Suche nach einem Verleih.
Weerasethakul ist auf dem Weg beliebig zu wirken, entwickelt dabei aber einen unwiderstehlichen Sog
Obskur wie eh und je gibt sich auch Arthouse-Liebling Apichatpong Weerasethakul, der vor einigen Jahren mit Blissfully Yours und Tropical Malady auf sich aufmerksam machte und für Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben 2010 die Goldene Palme in Cannes erhielt. Der Thailänder Weerasethakul, der sich der Einfachheit halber Joe nennen läßt, erschafft sozusagen das Gegenstück zum rasanten asiatischen Action-Kino, er gilt als Meister der langen und langsamen Einstellungen. Meistens interesiert er sich für Geschichten über Geister, so auch in Mekong Hotel, wo sie Tiere und vielleicht auch Menschen fressen. Seine Geister unterscheiden sich freilich von europäischen Gespenstern oder denen aus japanischen Gruselfilmen, die vor einiger Zeit einen großen Boom erlebten. Bei Weerasethakul können zwei Personen auf einem Bett sitzen und miteinander reden, aber deswegen müssen nicht beide als reale Menschen anwesend sein.
Auf eine Handlung verzichtet der Regisseur, auch auf eine Chronologie im üblichen Sinn, alles scheint gleichzeitig stattzufinden. Eine Hauptrolle spielt auf jeden Fall der Mekong, er taucht in vielen Einstellungen auf. Das unspektakuläre, fast unmerkliche Dahinströmen des Flusses ist dabei trotzdem von ungeheurer Präsenz. Auf der Tonspur liegt fast ununterbrochen eine Aufnahmesitzung mit einem Musiker, sogar inklusive Dialogbruchstücken mit dem Regisseur. Als wäre das noch nicht verwirrend genug, besteht das Bildmaterial zu großen Teilen aus Testaufnahmen für einen noch nicht realisierten Film: Weerasethakul ist bei aller angenehmen Lockerkeit auf einem nicht ungefährlichen Weg, beliebig zu wirken. Und wenn die Exotik nicht wäre – würde man manche Szenen nicht einfach langweilig finden? Wenn man sich darauf aber einläßt, entwickelt der Film trotzdem einen unwiderstehlichen Sog, man fühlt sich am Ende entspannt wie nach einer Meditations-Stunde. Mekong Hotel ist mit einer Länge von 60 Minuten für Weerasethakul eigentlich ein Capriccio und im Kino kaum unterzubringen. Er wird seinen Weg direkt ins Fernsehen und auf Sammel-DVDs finden.
Ein gutes Händchen bewies das Festival bei der Vergabe des Ehrenpreises
Andere Filme sind dagegen mittlerweile regulär angelaufen, Die Abenteuer des Huck Finn von Hermine Huntgeburth etwa und More than Honey, die Entwicklungshilfe-Doku Süßes Gift oder das etwa andere Nachkriegs-Drama Lore, das auch den Preis der Hamburger Filmkritik erhielt. Ruby Sparks von Jonathan Dayton und Valerie Faris, den Machern von Little Miss Sunshine, erweist sich als doch eher uninspirierte Pygmalion-Variation, die sich als kleines Indie-Kino tarnt. Ebenfalls ausgezeichnet wurde Ha-Mashgihim / God’s Neighbors, der innerhalb und von einer streng religiösen jüdischen Gemeinschaft gedreht wurde und bereits in Cannes einen Nebenpreis gewonnen hatte. Der Drehbuch-Preis für Gnade von Matthias Glasner mutet etwas seltsam an und liegt eventuell an der Vorauswahl. Ein gutes Händchen bewies das Festival dagegen mit der Vergabe des Ehrenpreises an das koreanische enfant terrible Kim Ki-Duk, dessen aktuelles Werk Pieta gerade eben in Venedig den Hauptpreis erhalten hatte.
Kim, der größte unter den nicht wenigen Schmerzensmännern des asiatischen Kinos, inszenierte sich selbst gnadenlos als landstreicherhafter Außenseiter und sang anstelle einer Dankesrede ein Volkslied. Das muß man sich erst einmal leisten können, es wurde aber ein berührender Moment daraus, der sich wohltuend von den üblichen formelhaften Abläufen bei Preisverleihungen unterschied. In Pieta frönt Kim weiter seiner Besessenheit von Leiden und Glaube: Wenn Mi-Son zum säumigen Schuldner kommt, bricht er Knochen, trennt Finger ab, verstümmelt Gliedmaßen, damit der Kredithai die Versicherung kassieren kann. Er ist ein geradezu animalisches Wesen, sein wertvollster Besitz ist sein Werkzeug, ein Messer. Angreifbar ist er nur – durch Liebe.
Kann die Frau, die so unvermittelt auftaucht und sich durch wirklich nichts abschütteln läßt, wirklich Mi-Sons Mutter sein, wie sie behauptet? Man mag es, ebenso wie der verlorene Sohn, irgendwann nicht mehr ausschließen. In grotesker Umkehrung der Verhältnisse bittet sie ihn um Verzeihung, Mi-Son sieht schließlich sein ganzes Lebenskonzept in Frage gestellt. Kim Ki-Duk produziert keine Splatter-Bilder, aber sehr körperliche, die darum so unangenehm sind. Die Opfer in Pieta sind alle Handwerker, ihre Maschinen eignen sich auch gut zur Zerstörung ihrer Leiber. Pieta ist ein sehr düsterer Film geworden, auch im wörtlichen Sinn, kaum ein Bild ist hell. Viele Detail-Aufnahmen, ähnlich wie im Horror-Film, verstärken das unterschwellige Unbehagen. Kim Ki-Duks Figuren sind immer extrem und unrealistisch, trotzdem bleibt ihr Verhalten nachvollziehbar. Eigentlich sind seine Filme nicht sehr kompliziert. Pieta zwingt den Zuschauer, sich seines Mensch-Seins bewußt zu werden.
Eine Dokumentation über die Atombombe und das Schlangenritual, ohne eine Explosion oder eine Schlange zu zeigen
Das Hamburger Filmfest ist ja für eine so große Stadt eigentlich eher klein. Festivalleiter Albert Wiederspiel albert bei seinen Reden herum und kokettiert ein wenig damit, unter dem Radar zu fliegen; das zumindest vermittelt er ganz sympathisch. Einige Dokumentationen hatten um die Ecke Bezüge zur Hansestadt. Snake Dance etwa mäandert um sein Thema, die Entwicklung der Atombombe, herum und betrachtet es aus ungewohnten Blickwinkeln. Zwei Orientierungsmarken gibt es dabei: Aby Warburg und Los Alamos. Der inzwischen einigermaßen vergessene Hamburger Kunsthistoriker Warburg, eigentlich ein Mitbegründer der Ikonographie, wirkt dabei fast wie ein Deuter für das Kino, das ungefähr zur gleichen Zeit entstand. Los Alamos, der spirituelle Ort, ist der Fixpunkt, zu dem der Film immer wieder zurückkehrt. Hier studierte Warburg das Schlangenritual der Hopi-Indianer, das die Versöhnung mit der Erde anstrebt; Jahrzehnte später heilte er sich durch die Arbeit an seinen Aufzeichnungen tatsächlich selbst aus einer Depression, die ihn bereits ins Sanatorium geführt hatte. Auch Robert Oppenheimer kurierte in Los Alamos seine Depressionen aus und wählte den Ort später für die jahrelange, abgeschiedene Arbeit an der Atombombe – wegen des schönen Ausblicks.
Hin und wieder stören handwerkliche Mängel, ansonsten bezieht Snake Dance klar Stellung, ohne zu agitieren. Dies ist eine Dokumentation über die Atombombe und das Schlangenritual, ohne eine Explosion oder eine Schlange zu zeigen. Überhaupt werden keine Archiv-Aufnahmen verwendet, für die Filmemacher Patrick Marnham und Emmanuel Riche schaffen die nur eine falsche Sicherheit: Der Zuschauer hat das Gefühl, das habe ich schon mal gesehen, ich weiß Bescheid.
Nicht ganz auf der Höhe zeigt sich leider Fatih Akin mit seiner Herzensangelegenheit Der Müll im Garten Eden über die Mülldeponie, die einem türkischen Dorf mit der üblichen Arroganz der Macht vor die Nase gesetzt wird. Ja, man hat so einen Film schon oft gesehen, und eigentlich interessant sind nur Details an Inhalt und Form. Manches erinnert an Stuttgart 21, nur daß hier die Menschen existenziell bedroht sind. Echte Bauern und Bäuerinnen treten auf, wie man sie hierzulande gar nicht mehr kennt – dann sieht man wieder, daß Anatolien moderner und uns viel näher ist, als oft befürchtet wird. Und die Dorfbewohner artikulieren ihre Verzweiflung mit erstaunlichem Sinn für Ironie.
Auf dem Festival spielt es aber keine große Rolle, was für einen Film er mitbringt: Hamburg umarmt Fatih Akin bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Einig wie selten treffen sich hier feine Gesellschaft und prollige Underdogs in herzlicher Zugeneigtheit. Akin hat in Hamburg eine ähnliche Wirkung auf die Menschen wie Marcus H. Rosenmüller in München: Er muß nur auf die Bühne joggen und den Mund aufmachen, schon überträgt sich seine Begeisterung auf alle Anwesenden, den Rezensenten eingeschlossen.
Eigentlich ist alles an “Beyond the Hills” unerträglich, aber es ist ein ausgezeichneter Film
Cristian Mungiu steht dagegen eher für eine grimmigere Gangart. Nach seinem mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Abtreibungsdrama 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage hat er für Beyond the Hills ebenfalls in Cannes den Preis für das beste Drehbuch erhalten, die beiden Schauspielerinnen Cosmina Stratan und Cristina Flutur teilten sich die Auszeichnung für die beste Darstellerin, völlig zu Recht. Die junge Alina besucht ihre Freundin Voichita im Kloster, sie kennen sich aus dem Waisenhaus. Alina hat eine Weile in Deutschland gearbeitet und ist kurz zurückgekehrt, weil sie ein Zeugnis braucht für einen Job auf einem Schiff. Eigentlich will sie aber Voichita abholen, deren Entschluß, Nonne zu werden, sie sowieso nicht gutheißt. Der sind das frühere Leben und die Freundschaft inzwischen fremd geworden, sie wehrt sich in gewissem Sinne sogar dagegen. Das Zeugnis wird nicht beschafft, Alina bleibt und man ahnt eine sich anbahnende Katastrophe.
Von der Stadt aus gesehen liegt das Kloster hinter den Hügeln, daher der Titel. Eigentlich handelt es sich dabei eher um eine Sekte, es sind nur minimale Kontakte nach draußen erlaubt, am Eingang warnt ein handgeschriebenes Schild: “Andersgläubige dürfen das Gelände nicht betreten. Frage nicht, glaube!” Priester und Mutter Oberin tragen nicht einmal Namen. Es herrscht immer geschäftiges Treiben, die Nonnen tun Dienst wie fleißige Mägde. Dennoch ist alles ineffizienter, dilettantischer Leerlauf, nichts geht voran, nichts ist im Griff. Der kaputte Ofen wird nie repariert, nur ständig neu abgedichtet, der Hund reißt sich von jeder Kette los, in den Zellen-Neubauten muß man wegen der Kälte im dicken Mantel schlafen. Voichita ist extrem passiv-aggressiv, ihr dünnes Stimmchen ist immer kurz vor dem Brechen, und wenn ihr nichts mehr einfällt, plappert sie einfach ein paar Sätze des Priesters nach. Alina ist dagegen der aktiv bis aggressive Gegenpart, doch sie hat selbst ein seelisches Problem.
Einem ausländischen Regisseur würde man wohl einen vorurteilsbehafteten Blick auf Rumänien vorwerfen: Die Gesellschaft wirkt rückständig wie im 19. Jahrhundert, alles ist ärmlich und heruntergekommen, die Gemüter sind schlicht, ja, es ist sogar Winter. Bei Mungiu muß man dagegen befürchten, daß man nahe an der Realität ist (abgesehen davon, daß der religiöse Fanatismus im Kloster den meisten Rumänen sicher genau so befremdlich vorkommen dürfte wie uns). Priester und Nonnen haben ein so kleines, abgeschlossenes Weltbild, daß alle Probleme sehr leicht erklärt werden können. Zweifel sind nicht möglich, es gibt keine persönliche Verantwortung, das macht sie so gefährlich. Vor lauter Liebe zu Gott rückt die Nächstenliebe in den Hintergrund, erscheint sogar verwerflich. Das Wunder ist, daß man sich als Zuschauer nicht dauernd schlecht oder unangenehm fühlt, denn eigentlich ist alles an diesem Film unerträglich: die Länge, die Langsamkeit, die fast ununterbrochenen Dialoge. Trotzdem kommt für keinen Moment Langeweile auf, das zeigt Mungius Können.
Xavier Dolan beweist mit Anfang Zwanzig schon mehr Reife, als die meisten ihr Leben lang erreichen
Mein persönlicher Favorit war jedoch Laurence Anyways von Xavier Dolan, der den Art Cinema Award erhielt. Es ist bereits der dritte Film des 1989 geborenen Kanadiers nach seinem Wunderkind-artigen Debut I Killed My Mother und dem ein wenig überschätzten Herzensbrecher, der sich hier einmal mehr als Spezialist für sexuelle Sonderwege erweist. Erst Ende Juni wird der Film in Deutschland anlaufen.
Am Anfang wirkt alles noch recht prätentiös, ein wildes Boheme-Leben wird zelebriert. Nach zwanzig Minuten outet sich dann der coole Lehrer und Gelegenheits-Schriftsteller Laurence seiner Lebensgefährtin Fred gegenüber, einer wilden und attraktiven Künstlerin: Er liebt Frauen, fühlt sich aber schon immer im falschen Körper und will selbst eine werden. Nach einigem Zögern entschließt sich Fred (die ironischerweise einen männlich klingenden Namen trägt), Laurence beizustehen. Es folgt ein jahrelanger emotionaler Ringkampf, die Liebe zwischen Laurence und Fred erscheint so unerreichbar wie die schwarze Insel, zu der sie immer reisen wollen.
Das erinnert ein wenig an Pedro Almodóvar, und zwar im besten Sinne. Dolan beweist mit Anfang Zwanzig schon mehr Reife, als die meisten ihr Leben lang erreichen. Unter Vermeidung von jeglichem Kitsch schafft er, daß man nie das Gefühl hat, einem Problemfilm beizuwohnen. Obwohl Laurences Problem fremd bleiben muß, erscheint es einem irgendwann völlig normal. Laurence, Fred, ihre zickige Schwester, Natalie Baye als Laurences schroffe Mutter und alle anderen Personen in diesem Film sind auf ihre Art scharfsinnig und besitzen auch dann ein Herz, wenn sie gerade gemein sind. Sie sind nicht lustig und schlagfertig wie in einer Screwball Comedy, sondern wie echte Menschen. Insbesondere Suzanne Clément verkörpert die Rolle von Fred herausragend, ist in gewissem Sinn sogar die Hauptfigur.
Trotz einiger Wiederholungen trägt Laurence Anyways auch über seine beachtliche Länge. Die gesamte letzte Stunde könnte man weglassen und hätte trotzdem einen fertigen Film. Der Regisseur will aber mehr und schafft das auch. Er dreht das Rad noch weiter, bis die Gefühle aller Beteiligten so sehr verstrickt sind, daß sie sich nie wieder auflösen lassen werden. Man fragt sich, was für Filme Dolan wohl machen wird, wenn er dreißig, vierzig, fünfzig Jahre alt ist. Bis dahin kann man einem Meister bei der Entwicklung zusehen.
Preise:
Douglas-Sirk-Preis
Kim Ki-duk
Preis der Hamburger Filmkritik
Lore
Regie: Cate Shortland | Deutschland/Australien/GB 2012
Foreign Press Award des Vereins der ausländischen Presse in Deutschland
Ha-Mashgihim / God’s Neighbors
Regie: Meni Yaesh | Israel 2012
TV-Produzenten-Preis
Claudia Schröder (Aspekt Telefilm) für Mörderische Jagd
Regie: Markus Imboden | Deutschland 2012
Montblanc Drehbuch Preis
Kim Fupz Aakeson für Gnade
Regie: Matthias Glasner | Norwegen/Deutschland 2012
Art Cinema Award des Internationalen Verbands der Filmkunsttheater
Laurence Anyways
Regie: Xavier Dolan | Kanada 2012
NDR Nachwuchspreis
Germania
Regie: Maximiliano Schonfeld | Argentinien 2012
Häagen-Dazs Publikumspreis
Hvidsten Gruppen – Nogen må dø for at andre kan leve / This Life
Regie: Anne-Grethe Bjarup Riis | Dänemark 2012
Michel Preis
Blijf! / Bitte bleib!
Regie: Lourens Blok | Niederlande 2011
Karlovy Vary 2012
47. Karlovy Vary International Film Festival
29. Juni – 7. Juli 2012
Sie haben ihren Kafka einfach noch gut drauf in Tschechien. Man kann sich an einem herrlichen Festival in einem schon fast übertrieben herausgeputzten Städtchen erfreuen und gleichzeitig mitten im Geschehen das lauernde Gefühl von Ausgeschlossenheit im Hinterkopf haben.
Es ist ja nicht so, daß irgend etwas in Karlovy Vary chaotisch verlaufen würde. Nein, alles scheint einer präzisen Organisation zu folgen, die aber leider allzu oft undurchschaubar bleibt, nicht zuletzt für die Beteiligten selbst. Widersprüchliche Auskünfte und generellen Mangel an Information kann man allein schon deswegen erwarten, da die meisten Angestellten – selbst in Nobelhotels, wo manche Filmvorführung stattfand – nur eine Handvoll englischer Wörter beherrschen. Dabei hat das Festival lauter junge Leute als Mitarbeiter, die die Sprache inzwischen in der Schule gelernt haben sollten. (Allerdings sind vielleicht die Lehrer noch nicht die besten.) Man wird stets erst einmal auf tschechisch angesprochen und kann schon den Angstschweiß auf der Stirn sehen, wenn der Ticketverkäufer erkennt, daß er einem eine Uhrzeit auf englisch mitteilen muß. Selbst eine Essens-Bestellung an einem Stand auf dem Gelände wird schnell ein kleines Abenteuer.
Dabei verbindet das drittälteste Filmfestival der Welt sehr gut Altes mit Neuem. Karlovy Vary ist ein traditionsreicher Kurort, wie sein deutscher Name Karlsbad bereits verrät. Investoren haben in den letzten Jahren viele alten Gebäude aufgekauft und renoviert. (Da sie und die Touristen in ihrem Gefolge in erster Linie aus Rußland stammen, führen manche Restaurants tatsächlich Speisekarten nur auf russisch, nicht einmal auf tschechisch.) Die Stadt erstrahlt in altem Glanz und wirkt geradezu wie ein Jugenstil-Traum. Man kann stundenlang durch ein Gewirr von überraschend steilen Gassen und prächtigen Straßenzügen wandern, Wasser an einem Heilbrunnen schöpfen oder Fußgängerzonen erleben, in denen aber Autos fahren. Außerhalb der Festival-Woche mag Karlovy Vary jedoch etwas bieder wirken.
Das Festival und sein Gäste aus aller Welt fügen sich jedenfalls problemlos in das Stadtbild ein. Sicher alleine schon aus Mangel an Kinosälen findet ein guter Teil der Vorführungen an altehrwürdigen Orten statt, die einen ausgezeichneten Rahmen für Hommagen an vergangene große Zeiten des Kinos wie Guy Maddins Keyhole oder tatsächlich betagte Filme wie Nosferatu bilden. Andererseits hält der sowieso stattfindende Kurort-Trubel das Festival frisch, es gibt sehr viele junge Besucher, auch viele Einheimische, was immer ein gutes Zeichen ist. Selbst mit dem üblichen omnipräsenten Sponsoring wird recht locker umgegangen.
Ja, man kriegt ein wirklich kafkaeskes Wechselbad geboten – das beginnt schon beim Katalog, der auf ungewöhnliche Weise sowohl höchst praktisch als auch höchst unpraktisch gestaltet ist, eine fast schon surreale Leistung. Ausgesprochene Professionalität wechselt sich ab mit erstaunlichen Fehlleistungen: In jedem Kinosaal werden die Untertitel auf separate Tafeln unterhalb der Leinwand eingeblendet, neben jedem Gast auf der Bühne steht ein Synchronübersetzer. Es gibt Gratis-Festivalbusse, die auf kuriosen Wegen ihre Ziele ansteuern. Dann läßt sich auf den bereitgestellten Browsern die eigene Webseite nicht richtig bedienen, weil sie so proprietär programmiert wurde. Manchmal glaubt man die schrittweise Entwicklung von der Lösung eines alten zur Entstehung eines neuen Problems nachvollziehen zu können: Die Tickets sind unglaublich günstig, der Normalpreis beträgt 65 Kronen (etwa 2,60 Euro). Also neigen viele Besucher dazu, sich auf gut Glück mit Karten für alle möglichen Vorstellungen einzudecken, zu denen dann nur ein Teil auch wirklich erscheint. Um dem entgegen zu wirken, wird der Ticket-Kauf nur für einen Tag im Voraus erlaubt. Das führt wiederum dazu, daß die Leute das beschränkte Potential erst recht ausnutzen, und um 11 Uhr am Vormittag eigentlich alle Vorführungen des folgenden Tages schon ausverkauft sind. Um die leer Ausgegangenen zu vertrösten, werden nun komplizierte Regelungen erdacht, wie man noch Restkarten ergattern kann: an diesem Ticketschalter eine Stunde vor Beginn der Vorführung, an jenem 15 Minuten vorher. Leider wird das in keiner Weise gekennzeichnet, und überall bilden sich hoffnungsvolle Warteschlangen.
Aber das tut der großartigen Stimmung keinen Abbruch; das hervorragende Wetter mag seinen Teil dazu beitragen. Den Fluß entlang erstreckt sich eine beachtliche Festival-Meile mit dem Hotel Thermal als Zentrum. In den Parks finden spontane Konzerte statt, in den Clubs kann man problemlos die Nacht durchmachen. Ein Gutteil der Flaneure wird wohl keinen einzigen Film gesehen haben. Die Musik-Beschallung ist nicht unbedingt aktuell (tagsüber kann man Clandestino von Manu Chao kaum entkommen, nachts covert eine Band tatsächlich Daddy Cool und Rivers of Babylon!), aber sie bleibt charmant. Überhaupt wird ein gewisser Humor gepflegt, sei es in den manchmal leicht pubertären Trailern, der rätselhaften Entscheidung für den Rosaroten Panther als Maskottchen oder den T-Shirts “Mein erstes Mal bei Karlovy Vary”, die einige Mitarbeiter tragen.
Die prominenten Gäste, u.a. Helen Mirren und Susan Sarandon, wurden groß gefeiert, die Auszeichnungen waren eher Nebensache (und nicht einmal im Katalog gelistet). Eine ganze Reihe Retrospektiven wurden veranstaltet, überhaupt war die Filmauswahl reichhaltig. Es wurden nicht nur unbedingt die neuesten Filme gezeigt, aber viel Qualität, und man konnte auf diese Weise einiges nachholen, was man in den letzten ein, zwei Jahren verpaßt hatte. Schade war nur, daß es oft nur eine einzige Vorführung gab. Amokläufe in Schulen scheinen zur Zeit ein recht beliebtes Thema zu sein. Naheliegenderweise war Osteuropa stark im Programm vertreten, hier ging es meist um die kriegerische Vergangenheit oder aber um gegenwärtige junge Frauen, die ihr Heil ohne allzu große Erklärung im Sex suchen. Es liefen auch auffällig viele griechische Filme, vielleicht ist eine Krise ja tatsächlich auch ein Grund für gesteigerte Kreativität.
Vielleicht ist Karlovy Vary auch einfach ein Filmfest für Fortgeschrittene, man muß es erst einmal kennenlernen, um sich darin zurecht zu finden. Ein Erlebnis ist es auf jeden Fall.
Preise:
Kristallkugel (Großer Preis)
Mer eller mindre mann / The Almost Man
Regie: Martin Lund | Norwegen 2012
Spezialpreis der Jury
Romanzo di una strage / Piazza Fontana: The Italian Conspiracy
Regie: Marco Tullio Giordana | Italien 2012
Beste Regie
Camion
Regie: Rafaël Ouellet Kanada 2012
Beste Schauspielerin
Leila Hatami für Peleh akhar / The Last Step
Regie: Ali Mosaffa Iran 2012
Bester Schauspieler
Henrik Rafaelsen für Mer eller mindre mann / The Almost Man
Eryk Lubos für Zabić bobra / To Kill a Beaver
Regie: Jan Jakub Kolski Polen 2012
Lobende Erwähnung für Pavel Liška für Polski film
Regie: Marek Najbrt Tschechien/Polen 2012
Lobende Erwähnung für Tomáš Matonoha für Polski film
Lobende Erwähnung für Marek Daniel für Polski film
Lobende Erwähnung für Josef Polášek für Polski film
Lobende Erwähnung für Yannis Papadopoulos für To agori troi to fagito tou pouliou / Boy Eating the Bird’s Food
Regie: Ektoras Lygizos Griechenland 2012
East of the West Award
Dom s bashenkoy / House with a Turret
Regie: Eva Neymann Ukraine 2011
Lobende Erwähnung für Aurora / Vanishing Waves
Regie: Kristina Buožytė, Bruno Samper Litauen/Frankreich/Belgien 2012
Bester Dokumentarfilm über 30 Minuten
Poslednata lineika na Sofia / Sofia’s Last Ambulance
Regie: Ilian Metev Bulgarien/Kroatien/Deutschland 2012
Bester Dokumentarfilm unter 30 Minuten A Story for the Modlins
Regie: Sergio Oksman Spanien 2012
Lobende Erwähnung für Soukromý vesmír / Private Universe
Regie: Helena Třeštíková Tschechien 2012
Independent Camera Award
Smrt čoveka na Balkanu / Death of a Man in Balkans
Regie: Miroslav Momčilović Serbien 2012
Publikumspreis
Hasta la vista / Come As You Are
Regie: Geoffrey Enthoven Belgien 2011
Kristallkugel für herausragenden künstlerischen Beitrag zum Weltkino
Helen Mirren
Susan Sarandon
Preis des Festivalpräsidenten
Josef Somr
Preise der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique (FIPRESCI)
Peleh Akhar / The Last Step
Preis der Ökumenischen Jury
Camion
Lobende Erwähnung für Estrada de Palha / Hay Road
Regie: Rodrigo Areias Portugal, Finnland 2011
Preis der Federation of Film Critics of Europe and the Mediterranean (FEDEORA)
Poupata / Flower Buds
Regie: Zdeněk Jiráský Tschechien 2011
Preis des Network for the Promotion of Asian Cinema (NETPAC)
Tepenin Ardi / Beyond the Hill
Regie: Emin Alper Türkei/Griechenland 2012
Europa Cinemas Label Award
Romanzo di una strage / Piazza Fontana: The Italian Conspiracy
Sehsüchte Potsdam 2012
Sehsüchte – 41. Internationales Studentenfilmfestival der HFF “Konrad Wolf” Potsdam-Babelsberg
24.-29. April 2012
Mitten im idyllischen und etwas verschlafenen Babelsberg bei Potsdam liegt ein filmisches Konglomerat, wie es in Deutschland seinesgleichen sucht: die ebenso geschichtsträchtigen wie weitläufigen Filmstudios, die Sendergebäude des RBB und dazwischen die Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) “Konrad Wolf” Potsdam-Babelsberg. Studio Babelsberg, das im Februar gerade seinen 100. Geburtstag gefeiert hat und sich damit das älteste Groß-Filmatelier der Welt nennen darf, kann auf legendäre UFA- und DEFA-Zeiten zurückblicken (letztere unter anderem mit dem berühmten Regisseur Konrad Wolf, dem Namensgeber der Filmschule) und zieht heute große Hollywood-Produktionen an wie z.B. Quentin Tarantinos Inglourious Basterds oder unlängst Der Wolkenatlas von Tom Tykwer und den Geschwistern Wachowski – allerlei deutlich preisgünstigerer Konkurrenz in anderen Teilen der Welt zum Trotz.
Das nach eigenen Angaben größten Studentenfilmfestival Europas wurde 1972 als “FDJ-Studententage” gegründet und blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück, bis es 1995 unter dem etwas romantischen Namen “Sehsüchte” von der HFF Potsdam-Babelsberg wieder in die Eigenständigkeit geführt wurde. Der im Jahr 2000 eingeweihte Neubau der Hochschule war denn auch hauptsächlicher Veranstaltungsort, die meisten Filme wurden aber in den nahegelegenen Thalia Programm Kinos vorgeführt, zwischen denen außerdem ein sehr praktischer Shuttle-Verkehr eingerichtet war: Einige Studenten fuhren einfach mit dem Auto hin und her, wenn sich eine Handvoll Passagiere zusammengefunden hatte.
Von den ca. tausend eingereichten Filmen aus aller Welt wurden gut 200 gezeigt, darunter auch einige Langfilme wie Kriegerin oder Trans Bavaria, die zum Teil bereits den Sprung in die deutschen Kinos geschafft hatten; es handelte sich aber ausnahmslos um studentische (Abschluß-)Produktionen. Die Kurzfilme wurden wie üblichen in Blöcken gruppiert präsentiert, darunter auch solche für Kinder und Jugendliche. Die Blöcke waren recht einfallsreich programmiert und nach bekannten Filmen benannt, wie etwa “Drei Farben weiß” mit eben drei Filmen, die mit dieser Farbe zu tun hatten. Darunter befand sich auch mein persönlicher Favorit Der weiße Schatz von Eva Bühler über eine kleine bolivianische Gemeinde am Rande des größten Salzsees der Welt. Nicht nur kommt die Regisseurin den Menschen erstaunlich nahe, sie formt aus der eintönigen Landschaft auch spannende Bilder – hier weiß jemand, wie man Filme macht.
Der diesjährige Fokus lag erstmals nicht auf einer Region, sondern dem Thema Nachhaltigkeit. Dies ging auf eine Initiative der Bundestags-Abgeordneten Valerie Wilms zurück, die auch Teil der Jury war. Die inhaltliche Nähe zu den “Climate Clips” des Münchner Hochschulfilmfests führte dazu, daß sich einige der dort im November präsentierten Filme in Potsdam wieder fanden. Der Preisträger Behind the Screen dokumentierte den Weg unserer Computer vom Rohstoff-Abbau über die Fertigung bis zur Entsorgung des Elektroschrotts, was bekanntlich oft unter sehr fragwürdigen Bedingungen geschieht. Der Film kam selbst mit etwas großspurigen Computer-Effekten daher, die über den ganzen Globus verteilten Recherchen und Dreharbeiten stellten aber eine bemerkenswerte Leistung dar.
Die Retrospektiven schließlich waren dem von mancher Seite verehrten Splatter-Filmer Jörg Buttgereit (Nekromantik) und Doris Dörrie gewidmet. Doris Dörrie war auch anwesend und erzählte gewohnt sympathisch in einem gut moderierten Publikumsgespräch über eine Stunde lang aus ihrem Leben. Ihre Beschreibung des Filmstudiums in München in den Siebziger Jahren klang erstaunlich aktuell. Auch daß man als angehender Filmemacher besser die Beteiligung eines Fernsehsenders bereits in der Tasche hat, bevor man sich um Filmförderung bemüht, ist wohl keine Entwicklung der letzten Zeit gewesen. Das Stolpern in die Karriere inklusive kurzem (und unter den Studenten im Publikum anscheinend bereits vergessenen) Abstecher nach Hollywood mit Ich und Er, die vielfachen Schicksalsschläge bei der Produktion von Bin ich schön? und den danach folgenden radikalen Wechsel zur “ballastfreien” Arbeit mit kleinen Teams – alleine schon für diesen Abend hätte sich der Weg nach Potsdam gelohnt.
Insgesamt bleibt ein sehr charmanter Eindruck von einem Festival, das liebevoll und witzig gestaltet ist und auch nach außen hin recht aufwendig präsentiert wird. Nur mehr Publikum würde man ihm für die Zukunft wünschen!
Preise:
Bester Spielfilm unter 30min
Die Schaukel des Sargmachers / The swing of the coffin maker
Deutschland 2012 | Ifs Internationale filmschule köln | 27′
Bester Spielfilm über 30min
Korsoteoria / So it Goes
Finnland 2012 | 29′
Bestes Schauspiel
Armi Toivanen in Korsoteoria / So it Goes
Beste Kamera
Teardrop
Deutschland/USA 2011 | HFF Potsdam-Babelsberg | 15′
Lobende Erwähnung für Vaterlandsliebe / A German Loves His Fatherland
Deutschland 2011 | Kunsthochschule kassel | 20′
Bester Dokumentarfilm unter 30min
Wir sterben / We die
Deutschland 2011 | HFF Potsdam-Babelsberg | 14′
Bester Dokumentarfilm über 30min
Buy me!
Deutschland 2011 | Filmakademie Baden-Württemberg | 59′
Bester Schnitt
Buy me!
Bester Animationsfilm
Flamingo Pride
Deutschland 2011 | HFF Potsdam-Babelsberg | 6’02”
Kuhina / Swarming
Finnland 2011 | Turku Arts Academy | 7’18”
Förderpreis für das beste Musikvideo
Alcoholic Faith Mission – Legacy
Deutschland 2011 | 4’20”
Fokus-Preis “Nachhaltigkeit”
Behind the screen – Das Leben meines Computers / Behind the Screen
Österreich 2011 | 61′
Produzentenpreis
Mia und der Minotaurus / Mia and the minotaur
Deutschland 2012 | Filmakademie Baden-Württemberg | 35′
Kriegerin / Combat Girl
Deutschland 2011 | HFF Potsdam-Babelsberg | 103′
Bester pitch!
Frauenprobleme
Bester Kinderfilm
Mia und der Minotaurus / Mia and the minotaur
Publikumspreis
Transpapa
Deutschland 2012 | Filmakademie Ludwigsburg | 90′